Das Unbehagen in Bus und Bahn
Verkehrsplaner sind sich einig: Klimaschutz und lebenswerte Städte brauchen mehr ÖPNV und weniger motorisierten Individualverkehr. Doch die Corona-Pandemie kehrte den Trend zunächst einmal um.
Verlierer der Pandemie gibt es viele. Einer davon: der öffentliche Personennahverkehr. Logisch, wo sonst kommen so viele Menschen in so engen, schlecht belüfteten Innenräumen zusammen. Und haben nicht mal Spaß dabei, anders als auf einer Party. Statt U- oder S-Bahn, Bus oder Straßenbahn fährt man lieber in der eigenen, versiegelten Blechkiste und atmet nur die eigenen Aerosole aus und ein. Nachvollziehbar, aber schlecht fürs Klima. Oder man steigt aufs Fahrrad. Gesund und modern, aber nicht für jeden das ganze Jahr über darstellbar.
Der Trend weg vom öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) lässt sich inzwischen problemlos statistisch belegen. So das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) im Juli Studienergebnisse präsentiert, nach denen sich 55 Prozent der Menschen ganz bewusst gegen die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel entscheiden. Der Anteil dieser Verkehrsmittel am sogenannten Modal-Split ist von 8 Prozent im Mai 2020 nochmals um einen Prozentpunkt im Mai 2021 gefallen. Und immer mehr Menschen steigen aufs Auto um. Waren es vor einem guten Jahr noch 34 Prozent, sind es im Mai 2021 schon 44 Prozent. Laut den Ergebnissen des WZB ist die Krise des ÖPNV dabei auch ein soziales Problem. Vor allem Besserverdienende kehren Bus und Bahn den Rücken. Wer keine Wahl hat, fährt weiter.
Höhere Autonutzung als vor der Pandemie
Das Problem dürfte so bald nicht weggehen. Im Gegenteil. Das Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) beobachtet sogar, dass sich „Routinen der Autonutzung“ auf einem Niveau verfestigen, „das deutlich höher liegt als vor der Pandemie“. Die Verkehrsforscher am DLR leiten das aus mittlerweile vier Befragungen ab, die in verschiedenen Phasen der Pandemie durchgeführt wurden.
Die erste Befragung fiel in die Zeit des ersten Lockdown Anfang April 2020, die zweite in die Lockerungen im Sommer. Die dritte Erhebung fand während der erneuten Beschränkungen im November 2020 statt, die vierte Ende April/Anfang Mai 2021. Zwar galten hier noch immer viele Einschränkungen, doch zugleich machte sich Hoffnung breit, dass es damit bald vorbei sein könnte.
Für einen positiveren Blick auf den ÖPNV hat das nicht gesorgt. In der Befragung von April/Mai 2021 gaben 52 Prozent an, sich bei der gemeinsamen Nutzung von Verkehrsmitteln unwohler oder sogar deutlich unwohler zu fühlen als zuvor. Im November sagten das 53 Prozent. Lediglich beim ersten Lockdown war das Unbehagen stärker ausgeprägt (63 Prozent). Bei der Fernbahn sieht es ähnlich aus, doch immerhin gibt es einen leicht positiven Trend (52 % vs. 57 %).
Das Unbehagen korrespondiert mit der Nutzungshäufigkeit. 18 Prozent gaben hier im April/Mai an, den ÖPNV „seltener“ zu nutzen, 35 Prozent fahren nach eigener Einschätzung „viel seltener“ mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch hier ist kein positiver Trend im Vergleich zur Befragung vom November 2020 zu erkennen.
Es kommt noch schlimmer. Die Verkehrsforscher fragten ÖPNV-Nutzer nach ihrer Einschätzung, wie viel sie in der Zukunft mit Bus, Bahn und Tram fahren werden. Hier gibt es sogar einen deutlich negativen Trend. Im November gingen noch 22 Prozent davon aus, den ÖPNV seltener nutzen zu wollen als vor der Krise, 3 Prozent wollten gar nicht mehr. Ein knappes halbes Jahr später wollen 25 Prozent seltener Bus und Bahn fahren und sogar 12 Prozent gar nicht mehr. Trotz der sich verbessernden Corona-Situation, zunehmender Impfquote und sinkender Ansteckungsgefahr.
Es sieht also nicht gut aus für den ÖPNV. Zwar gleichen Bund und Länder die Einnahmeausfälle aus, doch wenn langfristig weniger Leute öffentliche Verkehrsmittel nutzen, wird es finanziell schwierig. Insbesondere kleinere Städte und Kommunen verkraften den Fahrgastschwund nur schwer. In manchen Kommunen wird darüber nachgedacht, den ÖPNV an den Landkreis abzugeben, neue Ticketmodelle sollen ebenfalls helfen.
Um den Ruf des ÖPNV zu verbessern und ein wenig von dem Unbehagen im Publikum zu zerstreuen, hat der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) über seine Deutschland mobil 2030 GmbH die Initiative „gemeinsam #besserweiter“ gegründet. Auf der Webseite besserweiter.de trägt die Initiative News rund um den ÖPNV in Corona-Zeiten zusammen.
Darunter sind auch zahlreiche Studienergebnisse, die sich mit der Ansteckungsgefahr in Bus und Bahn beschäftigen. Der Grundtenor: Die Ansteckungsgefahr fällt nicht höher aus als in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. Die Berliner Charité etwa hat im Mai 2021 eine Studie zum Thema veröffentlicht, genau wie die TU Wien Anfang 2021, das Institut Pasteur im Frühjahr und kürzlich das Fraunhofer Institut im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums.
Aktuelle Yougov-Umfrage bestätigt den Trend
Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presseagentur zufolge bleibt der Trend weiterhin ungebrochen. Demnach fährt rund ein Drittel der Erwachsenen weniger oder gar nicht mehr mit dem ÖPNV. 11 Prozent nutzen seit Frühjahr 2020 keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. 19 Prozent gaben an, sie seien seither seltener mit Bus und Bahn unterwegs.
Für knapp ein weiteres Drittel (28 Prozent) der Befragten hat sich seit Corona in Sachen Mobilität nichts geändert. Sie nutzen Bus und Bahn genauso häufig wie vor der Pandemie. Weitere 36 Prozent gaben an, grundsätzlich keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen – unabhängig von Corona.
Voll wurde es in den Bahnen in den vergangenen eineinhalb Jahren nur, als wegen des Bahnstreiks viele Verbindungen ausfielen und die Fahrgäste sich dicht gedrängt auf die verbliebenden Züge verteilten. Dass weniger Bürger die Bahn nutzen, steht jedoch nicht ausschließlich im Zusammenhang mit der Angst vor Ansteckung. Durch Home Office, Kurzarbeit, Jobverluste und eingeschränkte private Kontakte gibt es für viele Menschen im untersuchten Zeitraum schlichtweg weniger Anlässe, das Wohngebiet zu verlassen.
ÖPNV in "tiefster Krise seit Jahrzehnten"
Viele der Studien kamen unter Beteiligung der Verkehrsträger zustande, manche wurden aufgrund ihrer Methodik kritisiert. Und natürlich veröffentlicht der VDV keine Studien, die die Verunsicherung der ÖPNV-Fahrgäste verstärken. Dass es eine widersprechende Datenlage gibt, ist allerdings auch nicht erkennbar.
Doch das Unbehagen zerstreut sich nicht so leicht. Der ÖPNV steckt in der „tiefsten Krise seit Jahrzehnten“, wie Susanne Henckel, Chefin des Verkehrsverbunds Berlin Brandenburg (VBB) kürzlich auf dem ÖPNV-Innovationskongress in Freiburg sagte. Es muss also mehr passieren, als Image-Kampagnen leisten können. Vielleicht muss sich der Nahverkehr ernsthaft mit der Frage beschäftigen, wie er zur besten Lösung für konkrete Bedürfnisse der Menschen werden kann – und nicht nur zur zweit- oder drittbesten Lösung, auf die man gern verzichtet, wenn sich die Möglichkeit oder ein externer Grund anbietet.
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