Per Nachtzug durch Europa? Das müssen Reisende wissen

Der Nachtzug soll auf vielen innereuropäischen Strecken das Flugzeug ersetzen. Und kann das mitunter auch. Diese andere Art des Reisens hat Grenzen – aber ihren ganz eigenen Charme.

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Sven Förster
Zu sehen ist ein Bahnhof
Nachtzüge boomen, das Angebot wächst. Aber wie nachhaltig ist diese Art zu reisen? [Quelle: Picture-Alliance]

Erst die nächsten Jahre werden es zeigen, ob die Deutsche Bahn am 17. September 2020 immer noch schlief oder einen letzten wach-rationalen Moment vor einem idealisierten Traum durchlebte. Kostenintensiv, niedrige Nachfrage, Aufwand in keinem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag – so lauten die Kernpunkte der knappen Antwort der DB auf die Forderung eines Twitter-Users: Mehr Nachtzüge als Beitrag zur Mobilitätswende. Dies regte der Student mit Pseudonym JoKr an. Zur Einordnung: Die Schülerin Greta Thunberg trug damals längst einen Household-Name, das Wort „Flugscham“ stand bereits im Duden.

Zwischen jenem Twitter-Chat und der Gegenwart liegen eine globale Pandemie und ein pan-europäischer Konsens. Staats-Bahnen (inklusive der deutschen), Politik und private Anbieter glauben nunmehr an Nacht-Verbindungen zwischen den Hauptbahnhöfen des Kontinents. Umso mehr, als Corona viele Billig-Flüge um ihr Adjektiv brachte. Wie bequem man unterwegs ist? Wohin die Reise  gehen kann? Und wie weit sie gesellschaftspolitisch führen wird? Darum soll es hier gehen, in dieser objektiven Analyse eines subjektiven Nachtzug-Romantikers. 

Nachtzug: Vorteile, Nachteile und Kategorien

Ausgeschlafen, gesättigt und mitten im Zentrum – so endet diese vielleicht abenteuerlichste Form modernen Reisens planmäßig. Wer Flughäfen als steril wahrnimmt und die Parkplatzsuche im eigenen PKW als Last, kann den Co2-Rechner und ideologische Gesichtspunkte also stecken lassen. Daneben lässt sich aus pragmatischer und finanzieller Sicht für die Schiene argumentieren: Im Normalfall kommt der früheste Flieger später an – und jener am Vortag mitsamt der Übernachtungskosten teurer.

Bei der Schlafqualität rangiert der Nachtzug ungefähr auf halber Strecke zwischen überfüllter Jugendherberge und angenehmem Einzelzimmer. „Liegewagen“ meint bei den meisten Anbietern ein 4er oder 6er-Abteil mit dünnen Decken, kleinen Kissen und der potenziellen Geselligkeit eines Hostel-Schlafsaals. In Schlafwagen stehen echte Betten mit echter Bettwäsche. Die Standard-Option sind zumeist Dreibett-Kabinen, optional gibt es Einzel-Abteile. An eine eigene Dusche kommen Reisende zumeist über „Deluxe“-Optionen, in günstigeren Segmenten gibt es (je nach Anbieter) nur eine bis zwei Waschgelegenheiten pro Wagon. Wer die Kampfpreise aus Plakatwerbungen oder Online-Bannern vergleicht, muss bedenken: Meist ist damit die Sitzplatz-Option gemeint. Damit reist man wie im Fernbus – sprich im Sitzen und bei ernsthafter Buchungslage denkbar eingepfercht.

Zu sehen ist ein Schlafabteil eines Nachtzuges
Komfort ist, was Du draus machst: In Nachtzügen schläft es sich zumindest bequemer als in Flugzeugen [Quelle: ÖBB]

Reisen im Nachtzug: Aktuelle Entwicklung und Preisbeispiel

Üblicherweise orientieren sich Zug-Anbieter an den durchschnittlichen Tarifen für Flug und Hotel der Zielstadt. Im Preiskampf der bloßen Beförderungsleistung unterliegt der Nachtzug den Billig-Fliegern nämlich. Laut einer Arbeit der ETH Zürich können Anbieter den Preis von 17,3 Cent pro Kilometer (rund 173 Euro für eine 1.000 Kilometer lange Strecke) für ein Schlafwagen-Bett nicht wesentlich unterschreiten. Ein Platz im Liegewagen muss demnach mindestens 10,4 Cent je Kilometer kosten. Einzig die Reise auf dem Sitzplatz (9 Cent pro Kilometer) kann preislich mit dem kostendeckenden Mindestpreis eines Billig-Flugs konkurrieren: Rund 10 Cent je Kilometer wären in der Luft fällig, werden aber oft mit Frühbucher-Angeboten oder für zeitlich unattraktive Verbindungen unterschritten.

 

Ein Quell des Hypes: Während der Pandemie schraubten strenge Abstands-Regelungen die akzeptable Passagierzahl im Flugzeug nach unten – und damit die Kosten sowie Beförderungspreise nach oben. Salopp gesagt finanzieren die Passagiere auf Gang- und Fensterplatz den freien Mittelplatz mit.

 

Tendenziell befördern hohe Flugpreise die Fahrgastzahlen im Nachtzug. Und mit der Auslastung sinken die Kosten je Sitzplatz. Gleichzeitig erlauben die höheren Tarife der Fluggesellschaften eigene Preissteigerungen. Damit spiegeln diese Zahlen aus 2016 nur bedingt die aktuelle Preissituation wider: Mit zwei Wochen Vorlaufzeit veranschlagt die Lufthansa 205 Euro für die Strecke Berlin – Wien (Stand Sommer 2021). Anbieter wie Easyjet operieren im angepeilten Zeitraum noch nicht im gewohnten Umfang (Einfachflug vier Tage später ab 90 Euro).  Am gewählten Tag bietet die deutsche Bahn (in Kooperation mit der ÖBB) Sitzplätze ab 90 Euro an. Liegeplätze (4er-Abteil) kommen auf 120 Euro, Schlafplätze auf knapp 200 Euro.

Nachtzüge: Nachhaltigkeit und CO2-Ausstoß

Dem Vergleich liegen Abfahrt oder Abflug an einem Montag zugrunde. Nicht zufällig: Branchensprecher betonen beständig die Vorteile der Nachtzüge für Geschäftsreisen. Eine clevere Ausrichtung: Die Änderung der Firmen-internen Regeln für Geschäftsreisen ist allemal denkbar. Wer nicht an freiwillige Einschränkungen der Entscheidungsträger glaubt, soll seinem Fuhrparkleiter bei nächster Gelegenheit einen Firmenwagen mit potentem Dieselmotor vorschlagen.

Aus rein ökologischer Perspektive wäre der Schwenk zum Nachtzug nachvollziehbar: Laut Emissionsrechner (wir nutzten jenen von Quarks.de) kommt ein Schnellzug auf 3,6 kg CO2 pro 100 Kilometer und Passagier. Die Beförderung eines Fluggastes verursache auf derselben Distanz 21,1 kg CO2.

Zu sehen ist ein Zug auf Gleisen
Reisen mit dem Nachtzug sind nachhaltiger, aber nicht zwingend günstiger als Reisen mit dem Flugzeug [Quelle: picture-alliance]

Internationale Nachtzüge: Aktuelle und geplante Verbindungen

Allerdings: Für deutsche Geschäfts- und Urlaubsreisende fällt das Angebot an Nachtzügen aktuell überschaubar aus. Richtung Süden ist das Angebot in Kooperation mit der ÖBB (die zwischenzeitlich viele Strecken in Deutschland eigenständig betrieb) passabel, die Verbindung gen Norden (Berlin-Malmö) kam während der Corona-Pandemie zum Erliegen und fuhr davor nur zweimal wöchentlich.

Bis in die 2010er-Jahre bestand eine Verbindung zwischen München und Paris – im Dezember 2021 soll sie wieder anlaufen. Die ebenfalls geplante Strecke Zürich-Amsterdam dürfte ab Dezember 2021 (zumindest) einen Zustieg in Köln erlauben. Über die Schweizer Metropole sind ab 2022 außerdem Verbindungen nach Rom und Mailand denkbar. Ab 2024 geht es ab Zürich über Nacht nach Barcelona. Sämtliche dieser Verbindungen sollen in einem Gemeinschaftsprojekt der deutschen, österreichischen, schweizerischen und französischen Bahngesellschaften entstehen – der Zusatz 2.0 hinter dem Projektnamen „Trans-Europ-Express“ verrät es: Wir waren in der Richtung schon einmal weiter.

 

Schweden fördert den Ausbau einer Verbindung zwischen Stockholm und Hamburg sowie zwischen Malmö und Brüssel mit beinahe 40 Millionen Euro. Erste Nachtzug-Optionen soll es 2022 geben. Planmäßig bietet mit „Moonlight“ ein privater Anbieter zum selben Zeitpunkt Nachtzüge zwischen Berlin und Brüssel. Der ebenfalls private Betreiber „Train4You“ will Rügen mit Basel verbinden und dabei mehrere deutsche Metropolen bedienen. In den Sommer-Monaten soll ein Nachtzug Verona und München verknüpfen.

Nachtzüge: Nachteile für Reisende

Bei allem kollektiven Hype um bestehende und kommende Nachtzug-Verbindungen: In der Detailbetrachtung bröckelt der Charme dieser Mobilitätslösung. Aus subjektiver Perspektive fehlt eine ordentliche Waschgelegenheit. Klar, in den Luxus-Kabinen sind (bei aktuellen Anbietern) eigene Duschen vorhanden. Aber in allen übrigen Kategorien stürmen relativ viele Reisende zu relativ ähnlichen Zeiten ziemlich wenige Waschräume und Toiletten. Ergattert man keine „Badezimmer-Zeit“ in dieser Wohngemeinschaft auf Schienen, ist ein maßgeblicher Vorteil dahin – dann muss der erste Weg nämlich vom zentralen Hauptbahnhof zu einem Hotel führen. 

Klar, wer den Nachtzug als Urlaubs-Vehikel nutzt, verlagert die Morgen-Hygiene an den Strand und sieht die Ankunfts- sowie Abfahrtszeiten eher locker. Ersetzt die Schiene den Business-Flug, sieht das anders aus. Und es droht ein weiteres Problem: Nicht jede Verbindung ist mit klassischen Büro-Zeiten und Meetings vereinbar. Zurück zu unserem vorherigen Preisbeispiel auf der Nachtzug-Strecke Berlin-Wien: Lässt die Ankunftszeit in der österreichischen Hauptstadt um 7:00 morgens noch eine gemütliche Melange vor Arbeitsbeginn zu, könnte die Abfahrt um 18:30 am Vortag (ab Hauptbahnhof) Nachmittags-Termine im Stamm-Büro unter Druck setzen. er die knapp drei Stunden spätere Option zieht, kommt mit einer Ankunft kurz vor 11:00 vormittags eher spät in der Donau-Metropole an. Zudem: Familienväter und -mütter werden ungern Übernacht-Optionen einem 1,5-Stunden-Flug vorziehen. Check-In und Airport-Taxi erhöhen die Gesamtdauer? Klar, aber der Nachtzug fährt auch nicht vor der Haustür ab und wird in der Praxis nicht Last-Minute geentert wie eine Straßenbahn.

Zu sehen ist eine Informationsgrafik zum Nachtzugverkehr der Deutschen Bahn
Einsteigen bitte: Das Angebot in Europa soll in den kommenden Jahren stark wachsen [Quelle: Deutsche Bahn]
Zu sehen ist Sven Förster

Fazit:

Bei allem Hype: Die vielleicht charmanteste Reise-Option ist nicht die einfachste. Ob Nachtzüge bald Flugzeuge als Urlaubs- und Business-Vehikel bei Intrakontinentalreisen verdrängen? Unwahrscheinlich, Jedenfalls mittelfristig. Doch bei genug Zeit, individueller Erdung und Sinn für kleine Abenteuer sticht die Nacht im Waggon die sterile Flugreise jederzeit aus.

Sven| @MobilityTalk

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