So kann Radverkehrsinfrastruktur funktionieren
Wie kann der Radverkehr schnell und effizient gestärkt werden? Dazu hat der ADFC innovative Maßnahmen aus verschiedenen Städten analysiert. Eigentlich ist es ganz einfach.
Studien belegen: Wer in einer Region mit einer gut ausgebauten Radverkehrsinfrastruktur wohnt, atmet bessere Luft und lebt gesünder. Deswegen versuchen Städte weltweit, die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Allein: Es hapert vielerorts bei der Umsetzung. Langwierige Planungsverfahren, Interessenabwägungen und fehlende Fördermittel bremsen einen raschen Ausbau.
Um zu zeigen, dass es auch anders geht, hat der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) nun das Projekt Innoradquick vorgestellt. Gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium und dem Bundesumweltamt schaute man sich weltweit herausragende Infrastrukturprojekte an – und überprüfte sie auf eine mögliche Anwendbarkeit auf deutsche Städte. Herausgekommen ist eine illustre Liste mit Beispielen aus Utrecht, Sevilla oder New York.
Utrecht: mit viel Geld zum Klassenprimus
Die niederländische Stadt Utrecht kombiniert eine solide Planung mit politischem Handlungswillen. Ihr Image als Fahrradstadt fußt dabei erst auf den Bemühungen der vergangenen 10 Jahre. Da beschloss die Stadtverwaltung den Verkehrsentwicklungsplan „Traffic Circulation Plan 2010-2015“. Fünf Jahre später wurde er durch das Vorhaben „Utrecht attractive and accessible 2015- 2020“ erweitert. Heute dient Utrecht international als Beispiel für eine schnell aufgebaute und gut funktionierende Radverkehrsinfrastruktur.
Allein zwischen 2015 und 2020 investierte die 350.000-Einwohner*innen-Stadt 186 Millionen Euro in die Radverkehrsinfrastruktur. Pro Kopf und Jahr fließen 132 Euro in Fahrradwege. Zum Vergleich: in Berlin (3,5 Millionen Einwohner*innen) bewegt sich die jährliche Investition mit 4,70 Euro pro Kopf auf deutlich geringerem Niveau.
Utrecht investiert aber nicht nur viel Geld pro Bürger*in, sondern bezieht diese auch aktiv in die Planungen mit ein. So durften 800 Radfahrer*innen im Vorfeld des Aktionsplans „Utrecht – we all cycle!“ ihre Sorgen und Bedürfnisse zum Thema Fahrradfreundlichkeit vortragen. Die Hauptthemen aus dieser Befragung bildeten die Grundlage des Aktionsplans. In der niederländischen Stadt treffen Bürger*innen-Beteiligung, politischer Wille und ausreichende Fördermittel aufeinander. Im Ergebnis setzte Utrecht bis 2020 von den insgesamt 107 Maßnahmen des Aktionsplans 96 um.
2019 zählte die Stadt mehr als 245 Kilometer geschützte Radwege, 90 Kilometer Radfahrstreifen und 18 Kilometer Fahrradstraßen. Mehr als die Hälfte (60 Prozent) der Einwohner*innen nutzt das Fahrrad zum Erreichen des Stadtzentrums.
Stetiger Aus- und Weiterbau
Die bestehende Struktur wird dabei stetig bewertet und bei Bedarf ausgebaut oder ergänzt. Ist eine bestehende Route überlastet, lassen neue Rad- und Fußgängerbrücken und Tunnelverbindungen den Radverkehr flexibler abfließen. Dazu widmete die Stadt auch viele Fahrspuren in breite Radwege um.
Zur Radverkehrsinfrastruktur gehören neben den Fahrbahnen auch Parkmöglichkeiten. Auch sie passt Utrecht dem wachsenden Radverkehr an. Bekannt ist das weltgrößte Fahrradparkhaus am Utrechter Hauptbahnhof mit Abstellmöglichkeiten für 12.500 Fahrräder. Ein weiteres, auf der Westseite des Bahnhofs, nimmt nochmals 5.000 Räder auf. Neben den statischen Parkgelegenheiten reagiert die Stadt bei Veranstaltungen auch mit temporären Pop-up-Parkmöglichkeiten. Ladezonen, die morgens der Lieferverkehr nutzt, dienen den Rest des Tages als Fahrradparkplatz.
Bis 2040 will Utrecht zur „Zehn-Minuten-Stadt“ zu werden. Heißt: wichtige öffentliche Einrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten und Knotenpunkte des öffentlichen Verkehrs sollen in kurzer Zeit zu Fuß, mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein.
Sevilla: Vier Jahre für ein Basisnetz
Rund 690.000 Menschen leben in Sevilla, der Hauptstadt von Andalusien. Bis vor wenigen Jahren wurde hier fast gar kein Fahrrad gefahren. Inzwischen werden rund sechs Prozent der innerstädtischen Wege mit dem Rad zurückgelegt. Sevilla startete 2006 mit zwölf Kilometern unverbundener und kaum genutzter Radwege. Die klare Zielsetzung der Regierungskoalition: ein Radverkehrs-Basisnetz bis Ende 2007.
In nur eineinhalb Jahren Bauzeit wurden aus den 12 Kilometern schon 77 Kilometer. Das Basisnetz verbindet lückenlos alle Stadtviertel und wichtigen Ziele Sevillas miteinander. Dieses Netz baute die Stadt in den Folgejahren weiter aus. 2008 führten bereits 92 Kilometer und 2010 dann 120 Kilometer Radwege durch die Stadt. Dafür mussten die Verantwortlichen Platz auf den Straßen schaffen. Insgesamt 4.000 Auto-Parkplätze wichen den Radwegen. Häufig widmeten die Planenden auch Fahrspuren in Radwege um.
Der gesamte Ausbau kostete Sevilla 32 Millionen Euro. 18 Millionen Euro davon flossen in das Basisnetz und 12 Millionen in die letzte Ausbaustufe auf 120 Kilometer. Weitere zwei Millionen Euro investierte die Stadt in die Verbesserung des Netzes.
Sind Radwege sicher, werden sie auch genutzt
Der Zuwachs an Radfahrenden in Sevilla geht auch auf das Sicherheitskonzept der Radinfrastruktur zurück. So sind in Sevilla die Radwege durchgängig vom Pkw-Verkehr getrennt. Dort wo es baulich nicht möglich war, dienen Poller und Geländer zur Separierung der Radfahrenden vom Pkw-Verkehr. An vielen Stellen entschied man sich für sogenannte Hochbordradwege, auf denen Radfahrende gegenüber der Straße leicht erhöht fahren und so besser gesehen werden.
In der Altstadt war dieses Konzept allerdings nicht praktikabel. Separate Radwege gibt es in den engen Gassen der Altstadt nicht. Deshalb entschied sich die Stadt dort für eine eingeschränkte Zufahrtsberechtigung für Nicht-Anwohner*innen, um den Autoverkehr zumindest zu reduzieren.
Zur Steuerung und Umsetzung der Radverkehrs-Strategie gründete die Verwaltung mit dem „Fahrradbüro“ eine eigene Abteilung. Sie übernahm neben der Gesamtkoordination des Projekts und Abstimmungen innerhalb der Verwaltung auch die Information der Bevölkerung. In einer Umfrage des Fahrradbüros befanden mehr als 90 Prozent ein Radverkehrsnetz in Sevilla für notwendig.
Der schnelle Ausbau gelang auch deshalb, weil mehrere Architekturbüros und Baufirmen Planung und Umsetzung gleichzeitig durchführten. Die Verantwortlichen versuchten, effizient zu arbeiten. So wurde das Basisnetz gebaut, noch bevor der Fahrrad-Masterplan bis ins kleinste Detail ausdiskutiert und ausgearbeitet war. Heute zählt das Radverkehrsnetz von Sevilla 175 Kilometer.
Der Ausbau von Sevillas Radverkehrs-Netz im Überblick
USA: Schnell bauen, später verbessern
In den USA wurde das Thema Radverkehrsinfrastruktur bis in die 2000er hinein nur sehr zaghaft behandelt. Erst 2010 begannen die Verantwortlichen, Radweg-Projekte tatsächlich umzusetzen. Dabei stießen die Amerikaner auf Probleme, die in Deutschland nur allzu bekannt klingen. Denn die Projekte erforderten in der Regel sehr lange Planungs- und Umsetzungszeiten. Von der Idee bis zum fertigen Radweg vergingen oft mehrere Jahre.
Inspiriert von der schnellen Umsetzung in Städten wie Sevilla, änderte man Ende der 2000er Jahre grundlegend die Strategie. Statt langer, perfektionistisch getriebener Planungsverfahren verlegte man sich auf taktische Schnellausbaumethoden, die im Winter geplant und in den wärmeren Monaten gebaut werden. Zwischen Idee und befahrbarem Radweg soll nicht mehr als ein Jahr liegen. Die Schnellbaumaßnahmen kombinieren dabei eine schnelle Umsetzbarkeit mit kostengünstigen und auch im Nachhinein noch flexiblen Ausbaulösungen.
Eine geeignete Maßnahme für den Schnellbauausbau des Nebennetzes ist unter anderem die Verkehrsberuhigung durch Tempo-30-Zonen oder Fahrbahnverengungen. Für das Hauptnetz bieten sich Pop-up-Radwege, geschützte Radfahrstreifen und geschützte Kreuzungen an.
Um die Radwege kostengünstig und flexibel zu gestalten, kommt neben Fahrbahnmarkierungen, flexiblen Leitpfosten und Armadillos (flache Trennelemente) auch die Separierung des Radstreifens mittels Blumenkübeln und Betonbarrieren zum Einsatz. Sie ermöglichen eine flexible Umgestaltung und nachträgliche Verbesserungen.
Finanzierung und Fristsetzung
Um die Projekte schnell auf die Straße zu bringen, müssen Engstellen vermieden werden. So hat New York die Kapazitäten zum Anbringen von Straßenmarkierungen um 50 Prozent aufgestockt. So sind neue Projekte nicht mehr von der Verfügbarkeit externer Unternehmen abhängig. Auch das „Aufspringen“ auf ohnehin fällige Straßenbaumaßnahmen erwies sich als erfolgreich.
Dafür ist es notwendig, die Antragsverfahren möglichst schlank zu halten. Die Verfahren zur Antragsstellung, Prüfung und Auszahlung bringen die Ausbauprojekte schnell in Verzug. Deshalb nutzen US-Städte meist lokale Gelder statt Bundesmittel.
Daten sammeln und Verbesserungen aufzeigen
Wichtig war außerdem, messbare Projektziele festzulegen und diese im Anschluss zu überprüfen. Neben dem schnellen Radwege-Bau übernimmt New York auch hier eine Vorreiterrolle. So werden etwa die Entwicklungen der Umsatzsteuerdaten des Einzelhandels entlang ausgebauter Radwege oder die Anzahl und Schwere von Verkehrsunfällen vor und nach den Schnellausbauprojekten untersucht. Die Statistik zeigt: Das Risiko, bei einem Unfall mit dem Rad schwer verletzt oder getötet zu werden, ist seit 2000 um 75 Prozent gesunken. Im Umkehrschluss stieg die Anzahl der Radfahrenden um 225 Prozent.
ADFC: Deutschland fehlt der Mut
Deutschland hat mit dem Nationalen Radverkehrsplan 3.0 klare Ziele formuliert: Bis 2030 soll Deutschland zum Fahrradland werden. Auf dem Weg dorthin vergab das Bundesverkehrsministerium 2021 sieben Stiftungsprofessuren für den Radverkehr, um neues Fachpersonal zu gewinnen. Darüber hinaus enthält das aufgelegte Klimaschutzprogramm 2030 zusätzliche Förderprogramme. Allerdings fehlen den Kommunen größere rechtliche und planerische Freiheiten. Der ADFC hält daher eine Reform der Straßenverkehrs-Ordnung mit einem modernen Regelwerk für notwendig, um den Ausbau das Fahrrad-Infrastruktur flächendeckend ankurbeln zu können.
Wie schnell auch in Deutschland Radverkehrs-Projekte umgesetzt werden können, zeigt das Beispiel Berlin Friedrichshain-Kreuzberg. Dort fokussiert die Politik seit 2019 den Radverkehr. Dazu glich der Bezirk zunächst die Personalstärke den Herausforderungen an. Aus drei Radverkehrsplaner*innen wurden acht. Den wichtigen Bereich „Planen und Bauen“ besetzen fünf Mitarbeitende. Sie betreuen vier bis fünf Projekte gleichzeitig.
Während der Pandemie und dem einhergehenden Anstieg von Radfahrenden beschleunigte der Bezirk sein Verwaltungsverfahren. Ergebnis: Pop-up-Radwege wurden innerhalb von nur zehn Tagen angeordnet und umgesetzt. Der Bezirk schloss damit Lücken im Rad-Netz.
Zwar wollte das Land Berlin diese Lücken ohnehin schließen. Um den Vorgang zu beschleunigen, setzte der Bezirk aber auf das US-Konzept der Schnellbaumaßnahmen. So setzten sie Markierungen und physische Trennung vom Pkw-Verkehr zunächst nur sehr vereinfacht und pragmatisch um. Zum Einsatz kamen beispielsweise einfache Warnbaken, die später aus- bzw. nachgebessert werden konnten. Voraussetzung waren auch hier eine klare Agenda und Umsetzungswillen bei den politischen Akteuren.
Wille, Effizienz, Bürger*innen-Beteiligung
Das Fazit des Projekts Innoradquick: Es braucht den politischen Willen für Veränderung. Auch, um angestaubte Verwaltungsprozesse zu hinterfragen, aufzubrechen und zu verändern. Optimierte Planungsverfahren, weniger Hang zum Perfektionismus und motiviertes Personal in ausreichender Stärke sind für eine rasche Umsetzung von Radverkehrs-Maßnahmen notwendig. Was die Projekte vereint, ist das gleichzeitige Anstoßen verschiedener Prozesse. Sevilla etwa startet den Bau des Basisnetzes, bevor alles bis ins kleinste Detail ausgearbeitet ist.
Außerdem ist die Beteiligung der Bevölkerung maßgeblich für den Erfolg der Maßnahmen. Gerade Schnellbaumaßnahmen bieten die Möglichkeit, Bürger*innen in Echtzeit zu beteiligen, weil die Flexibilität Nachbesserungen ermöglicht.
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