Witkar: Das erste elektrische Carsharing der Welt
Die Witkars sehen aus wie Seilbahngondeln und sind die Vorgänger von We Share und Co: In Amsterdam entstand 1974 das erste elektrische Carsharing der Welt – nachdem die Stadt Fahrräder abgelehnt hatte.
Am Anfang steht ein großes Missverständnis. Der niederländische Entwickler und Politiker Luud Schimmelpennink, Jahrgang 1935, will unter der Bezeichnung ‘Witte fietsenplan’ eigentlich einen Sharing-Service für Fahrräder entwickeln. Gemeinsam mit einer Anarchisten-Gruppe platziert er im Jahr 1965 fünfzig weiß lackierte Fahrräder ohne Schloss in Amsterdam. Die Bürger*innen sollten sie für eine Fahrt nutzen und anderswo in der Stadt für die nächsten Nutzer*innen zurücklassen. Heute nennen wir so ein System „Free Floating“.
Mit der Idee, Räder ohne jede Kontrolle zu teilen, war Schimmelpennink seiner Zeit offenbar zu weit voraus: Alle Räder wurden in kurzer Zeit gestohlen. Schimmelpennink, inzwischen in den Stadtrat gewählt, sucht daher politische Unterstützung für ein dauerhafteres und besser strukturiertes Angebot. „Das Auto war damals sehr dominant in der Stadt“, Er habe dem eine Alternative gegenüberstellen wollen. sagt der heute 86 Jahre alte Schimmelpennink.
Fahrräder? Amsterdam sagt nein
Heute existiert Fahrrad-Sharing in tausenden Städten rund um die Welt. Aber 1967 lehnt die Amsterdamer Stadtverwaltung den Plan ab. Begründung: Die Geschichte des Fahrrads sei vorbei, das Auto die Zukunft. Eine aus heutiger Sicht erstaunliche These – zumal aus Amsterdam. Der Stadt, die nur wenige Jahre später die ersten Reformen anstößt, die es heute zur Fahrrad-Hauptstadt der westlichen Welt geformt haben. Luud Schimmelpennink sagt sich jedoch: Wenn nicht mit Fahrrädern, dann eben mit Elektroautos. Das Ergebnis soll das erste elektrische Carsharing der Welt sein. Ein Verkehrsnetz aus kleinen, umweltfreundlichen Fahrzeugen für die Innenstadt, die eine alltagstaugliche Alternative zu großen, schmutzigen Autos bilden.
Auch das will die Stadt nicht unterstützen, erlaubt aber immerhin ein Pilotprojekt. Privat sammelt Schimmelpenninks Kooperative umgerechnet eine runde Viertelmillion Euro ein. Damit stemmen die Aktivist*innen das Design, die Entwicklung und den Bau der Fahrzeuge und der Ladesysteme. Sie kaufen einen Computer, der das System steuert und lassen spezielle Software entwickeln. Anfang der 1970er Jahre ist das echte Pionierarbeit.
Erstes E-Carsharing öffnet 1974
Witkar bedeutet wörtlich übersetzt „weißes Auto“, die Namensgebung orientiert sich am vorläufig gescheiterten Bikesharing-Projekt. „Weiß“ steht dabei auch für „sauber“ und frei von Luftverschmutzung. Die Zweisitzer ähneln optisch einer Seilbahngondel. Sie bieten wenig Ausstattung, aber anders als das Fahrrad immerhin ein Dach und Türen. Die erste Witkar-Station öffnet im März 1974 im Zentrum von Amsterdam. Während der dreimonatigen Pilotphase genehmigt die Stadt nur diese eine Station, was Witkar vor große logistische Herausforderungen stellt. Erst danach öffnen vier weitere Stationen. Die nun fünf Lade-Hubs versorgen insgesamt 35 Autos.
Wer das Witkar-Netz nutzen möchte, muss der Kooperative beitreten und pro fünf Kilometer Fahrt einen Gulden Gebühr zahlen. Mit einem Magnetschlüssel melden sich die Nutzenden am System an und wählen ihr Ziel aus. Das System überprüft, ob am Ziel ein Ladeplatz frei ist. Eine Fahrt ist nur von Station zu Station möglich, da das Fahrzeug dort an einer Art Oberleitung-Schiene wieder aufgeladen werden muss. Die Reichweite beträgt nur 15 Kilometer.
Die Witkars fahren maximal 30 km/h schnell, das Misstrauen der Behörden ist trotzdem groß. „Am Anfang verfolgte die Polizei die Autos, weil sie Angst hatten, dass sie zu gefährlich sind“, erinnert sich Schimmelpennink in einem Interview der BBC.
Dabei habe es nie einen Unfall gegeben. Das Medieninteresse ist groß, ebenso das des Publikums: Insgesamt 4.500 Amsterdamer traten dem ersten elektrischen Carsharing-System der Welt bei. Solange es existiert. Denn: Mit Genehmigungen für die Expansion ist die Stadt zurückhaltend. Eigentlich will Luud Schimmelpennink im ersten Wurf 15 Ladestationen über Amsterdam verteilen und damit 100 Witkars betreiben. Später sollte das Netz sogar 150 Stationen und 1.000 Fahrzeuge umfassen. Aber dazu kommt es nie. „Die Stadtverwaltung war immer noch ein bisschen dagegen“, sagt Schimmelpennink.
Das letzte Witkar fährt 1988
Die zu geringe Zahl genehmigter Ladestationen schränkt den Nutzen des Witkar-Netzes stark ein. Es bleibt mit wenigen Stationen und der damaligen Batterietechnik ein wenig Liebhaberei: Die Ladezeiten sind lang, die Reichweiten klein. So kann stets nur ein kleiner Teil der Witkars gleichzeitig auf der Straße fahren. Zudem verteilen sich die Fahrzeuge nicht gleichmäßig im Netz: Einige Stationen sind stets überfüllt, andere leer. Ein Problem, das auch heutige Sharing-Anbieter kennen, und über das Umverteilen von Fahrzeugen auffangen. Bei den Witkars ist das logistisch noch nicht möglich.
Schließlich müssen Schimmelpennink und seine Mitstreitenden 1986 aufgeben, 1988 fährt das letzte Witkar durch Amsterdam. Trotz der Probleme mit der damaligen Technik: Seine damalige Idee hält der Pionier heute noch für „sehr gut“. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben: Ein sauberes, stadtverträgliches Innenstadt-Verkehrssystem in Ergänzung zum Nahverkehr benötigen die Kommunen heute mehr denn je. Das gilt auch in der Fahrradstadt Amsterdam, wo der heute 86-jährige Schimmelpennink seit einigen Jahren ein neues Auto für ein neues elektrisches Carsharing entwickelt. Mit aktuellen Reichweiten, Lade- und Prozessorgeschwindigkeiten dürfte es alltagstauglicher ausfallen als der Erstling 1974.
Die Stadt, in deren Parlament Schimmelpennink mehrmals gewählt wurde, hat mit dem Visionär jedenfalls ihren Frieden gemacht. 2017 erhält der damals 82-Jährige den „Frans Banninck Cocq“-Orden für seine Verdienste um die Stadt Amsterdam. Witkar ist heute wieder eine etablierte Carsharing-Marke in vielen niederländischen Städten – allerdings derzeit noch mit benzinbetriebenen Smart Forfour.
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