120 Jahre U-Bahn: Verkehrswende anno 1902
Deutschlands erste U-Bahn revolutioniert 1902 den Stadtverkehr. Heute knüpfen sich wieder große Hoffnungen an die U-Bahn. Aber: Der Bau ist teuer, die CO2-Bilanz mäßig.
Berlin besitzt 1902 noch (für viele Jahrzehnte) sein Schloss, darin residiert der Kaiser (noch bis 1918). Auf der Straße flanieren die Menschen mit Hut und Gehstock. Im Transportwesen sind deutlich mehr Pferde als Autos unterwegs. Über deren Köpfen aber führt die Elektromobilität in die Zukunft. Strombetriebene Waggons auf einer futuristischen Stahlkonstruktion: Die U-Bahn nimmt in Berlin nur ein Jahr nach der U-Bahn in New York den Betrieb auf. Die Hochbahn in Preußens Hauptstadt eröffnet das deutsche U-Bahn-Zeitalter.
120 Jahre ist das inzwischen her. Damals soll die neue Bahn helfen, die rasant wachsende deutsche Megacity bewohn- und regierbar zu halten. Heute knüpfen sich ähnlich große Hoffnungen an die U-Bahn. Als Rückgrat der Verkehrswende gelten die „großen Systeme“ unserer großen Städte. Um den CO2-Ausstoß des Verkehrs zu senken, sollen mehr Menschen auf die U-Bahn umsteigen. „Mobilitätswende ohne die U-Bahn? Das kann sich in Berlin wohl niemand vorstellen“, sagen die Verkehrsbetriebe der Hauptstadt. Doch der Sanierungsstau ist gewaltig. Und der Bau neuer Tunnel ist teuer und seine CO2-Bilanz nicht ideal.
Bevölkerung in 40 Jahren vervierfacht
In die U-Bahn zu steigen, ist für Millionen Menschen in Deutschland heute vollkommen normal. 1902 ist es eine Sensation. Nach einer Premierenfahrt für geladene Gäste können ab dem 18. Februar 1902 alle Berliner die erste deutsche U-Bahn nutzen. London, Paris oder Budapest haben ihre U-Bahn früher eröffnet. Werner von Siemens hatte die Stadtoberen an der Spree jahrelang vergeblich gedrängt, die Inbetriebnahme der Bahn erlebt er nicht mehr.
Der Leidensdruck ist groß, die Straßen sind überlastet mit Pferdefuhrwerken und Trams. Leben 1861 noch rund 500.000 Menschen in Berlin, sind es im Jahr 1900 bereits fast 1,9 Millionen. Entlastung bringt ein knapp sechs Kilometer langer Hochbahn-Abschnitt vom damaligen Stralauer Thor (heute: Warschauer Straße) zum Potsdamer Platz. Bis zum Ende des Jahres wird die Strecke dann – einschließlich eines Tunnels – bis zum heutigen Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg freigegeben. Damals ist Charlottenburg noch eine Nachbarstadt.
Bald folgt Hamburg mit seiner U-Bahn, dann stoppen die Weltkriege neue Projekte in Deutschland. Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren folgen die nächsten großen Investitionen, denn die westdeutschen Innenstädte ächzen unter der Last des Autoverkehrs. Essen, Frankfurt, Köln, München oder Nürnberg wollen für Autos mehr Platz schaffen, indem sie Teile ihrer Straßenbahnen in Tunnel verlegen.
Aus heutiger Sicht eine kluge Entscheidung, denn: „Die großen deutschen Städte wären ohne ihre U-Bahnen schlicht nicht vorstellbar, sie könnten nicht mehr nachhaltig wachsen und würden heute schon vor dem Verkehrskollaps stehen“, sagt Ingo Wortmann, der Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Aber die Systeme sind vielfach in die Jahre gekommen. Der Nahverkehr sei lange nur als lästiger Kostenfaktor gesehen worden, an den U-Bahnen nur das Nötigste gemacht worden.
Neue Tunnel für die Verkehrswende
Allmählich ändert sich das. Für die Verkehrswende muss wieder in die Bahn investiert werden. Überregional, aber auch im Nahverkehr. Viele Städte planen neue Strecken und Abschnitte ihrer U-Bahnnetze. München und Hamburg haben mehrere Verlängerungen bestehender Linien ins Auge gefasst oder schon begonnen. Berlin hat erst vor einem guten Jahr eine Netzlücke an prominenter Stelle geschlossen: Unter dem Boulevard Unter den Linden und dem wiederaufgebauten Schloss fährt nun eine U-Bahn. Weitere Projekte will der neue Senat anschieben. Im Gespräch sind vor allem neue Verbindungen in den Außenbezirken: in Spandau, in Zehlendorf, in Pankow oder zwischen Rudow und dem neuen Flughafen BER.
Die großen Neubauvorhaben mit kilometerlangen Netzen gibt es aber nicht in Deutschland, sondern etwa in der Golfregion und den Megastädten Ostasiens – oft mit deutscher Technik. In Deutschland geht es eher um die Verdichtung bestehender Netze.
Neue U-Bahnen: Kosten und Klima
Die Kosten solcher Maßnahmen allerdings sind beachtlich. Allein die 2,2 Kilometer mit drei Bahnhöfen zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz kosteten 540 Millionen Euro. 2,6 Kilometer neue U4 in Hamburg werden wohl mit 465 Millionen Euro zu Buche schlagen. „Wir wollen eine Stadt werden, die leiser wird, in der es mehr Raum gibt für den Radverkehr, für das zu Fuß gehen, für das Leben im öffentlichen Raum“, hatte der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) anlässlich des ersten Spatenstichs vergangenes Jahr verkündet.
Ist die U-Bahn dafür das richtige Verkehrsmittel? Darüber wird immer wieder diskutiert. Denn U-Bahnbau ist nicht nur teuer, er dauert auch lange. Bis eine neue Verbindung die Straßen entlasten kann, vergehen oft Jahrzehnte. Auch die Klimabilanz steht in der Kritik. In Berlin etwa erregte eine Untersuchung Aufsehen, nach der ein U-Bahn-Bau viel größere Mengen Kohlendioxid freisetzt als etwa der einer Straßenbahntrasse. Pro Kilometer Tunnelstrecke errechnet die Studie rund 100.000 Tonnen CO2-Emissionen. Hauptgrund ist der hohe Energieaufwand bei der Herstellung von Zement und Stahl, die für Tunnelröhren und Bahnhöfe benötigt werden.
Demgegenüber stehen der Studie zufolge Einsparpotenziale von maximal 5.000 Tonnen CO2 pro Jahr, infolge ersetzter Bus- und Autofahrten. Den initialen CO2-Ausstoß kompensieren neue U-Bahnen also erst nach mehr als 100 Jahren. Bei neuen Straßenbahnstrecken sei dies bereits nach 10 Jahren oder weniger der Fall.
Vom Klima spricht 1902 noch niemand
Aber: Bei der Kapazität und Reisegeschwindigkeit liegt die U-Bahn deutlich vorn. „Die U-Bahn hat unvergleichliche Stärken“, heißt es beim VDV mit Blick auf die deutlich größeren Passagiermengen. Die Straßenbahn fülle die Lücke zwischen dem Bus und unterirdischen Stadtbahn- oder U-Bahn-Systemen. Für mehr Klimaschutz müsse der gesamte Nahverkehr ausgebaut werden, auch die U-Bahn. Wenn dazu Kosten und Nutzen abgewogen werden, müsse der Klima-Aspekt stärker berücksichtigt werden.
Vom Klima spricht 1902 noch niemand, als die erste deutsche U-Bahn ans Netz geht. Fuhrwerke und Droschken auf Berlins Straßen fahren meist noch mit „Hafermotor“, wie die Taxi-Innung heute die Zugpferde nennt. Was nicht bedeutet, dass dadurch keine Umweltprobleme entstehen. Kommunen wie London und New York beklagen damals Seuchengefahr, hervorgerufen durch große Mengen Pferdekot und die Kadaver verendeter Tiere.
Da weist die Hochbahn 1902 in eine saubere Zukunft: Auf stählernen Stelzen fahren gelbe und rote Wagen verschiedener Klassen in moderne Bahnhöfe aus Stahl und Glas. Zur elf Kilometer langen Stammstrecke kommen bald weitere hinzu. Knapp 150 Kilometer sind es heute in Berlin, intensiv genutzt: Vor Corona machen Berliner und Besucher pro Jahr fast 600 Millionen Fahrten mit der U-Bahn.
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