Griechenland testet emissionsfreie Mobilität
Auf den Inseln Astypalea und Chalki probt Griechenland den Sprung ins elektromobile Zeitalter. Bisher ist das Land eines der Schlusslichter in Europa.
Björn Tolksdorf
Niemand übertreibt mit der Feststellung, dass die Dekarbonisierung des Verkehrs ein Jahrhundertprojekt ist. Mehr als 250 Millionen Pkw fahren allein in Europa, die meisten mit fossiler Energie. Darauf ist die komplette Infrastruktur abgestimmt, ebenso die Wertschöpfungsketten im Automobilbau, im Service und im Nahverkehr. Jedes Land und jede Region weist zudem eigene Herausforderungen und Bedürfnisse auf. Wie lassen sich der ökologische Umbau der Fahrzeugflotten und die Transformation der Mobilitätsentscheidungen bewerkstelligen? Wie lässt sich parallel eine nachhaltige Energieversorgung für eine weitgehend batterieelektrische Mobilität in der Breite herstellen? Dazu gibt es viele Überlegungen und Projektionen, aber bisher nur wenige Erfahrungen.
Besonders wenig Erfahrung haben damit der Süden und Osten der EU. Europas Elektro-Schlusslicht ist Griechenland: Dort existierten Ende 2020 landesweit nur 61 öffentliche Ladesäulen, im gesamten Jahr 2020 wurden rund 500 Elektroautos neu zugelassen. Es ist also ebenso mutig wie notwendig, dass in der auf zahllose Inseln zersplitterten Ägäis nun Modellprojekte anlaufen, die zur Blaupause für die Elektrifizierung des Verkehrs in vielen europäischen Regionen werden können.
Auf der kleinen Insel Astypalea am westlichen Rand des Dodekanes-Archipels errichten der griechische Staat und Volkswagen gemeinsam das erste CO2-neutrale Verkehrssystem Griechenlands. Der Vertrag wurde im November 2020 geschlossen, Anfang Juni 2021 übergab Volkswagen-Chef Herbert Diess den lokalen Behörden die ersten elektrischen Fahrzeuge. Parallel gehen die ersten öffentlichen Ladepunkte ans Netz. Seit Anfang September 2021 können Bürger die hohen Förderungen für Elektrofahrzeuge beantragen, die Griechenland bereitstellt.
Kredite und Fördermitttel für die Einwohner
Der Plan: Innerhalb von fünf Jahren sollen die rund 1.300 Einwohner der Insel ihre Autos und Motorroller, ihre Lastwagen und Busse gegen elektrisch angetriebene Fahrzeuge tauschen oder auf ein niedrigschwelliges Shuttle-on-Demand- sowie ein Carsharing-System zurückgreifen. Volkswagen wird die Fahrzeuge für Astypalea günstiger anbieten, der griechische Staat hilft zusätzlich mit hohen Subventionen. Für ein Auto können Anwohner bis zu 15.000 Euro, für einen E-Scooter bis zu 3.000 Euro Zuschuss beantragen. Zusätzlich stellen Banken Kredite bereit, die den Umstieg erleichtern sollen.
Parallel will der griechische Staat die Stromversorgung Astypaleas umstellen. Derzeit erzeugt die Insel ihren Strom mit Dieselgeneratoren, dabei fallen fast 5.000 Tonnen CO2 pro Jahr an. Bis 2023 soll ein Solarpark entstehen, der rund drei Megawatt Strom bereitstellt. Das soll für rund 50 Prozent des Strombedarfs der Insel sowie für den kompletten Bedarf der Elektroauto-Flotte reichen. Bis 2026 wird das Stromsystem weiter ertüchtigt und soll dann 80 Prozent des Strombedarfs der Insel decken. Das bedeutet nicht nur CO2-Einsparungen, sondern auch eine deutliche Reduzierung der Stromkosten für die Astypaliten, sagt der stellvertretende griechische Außenminister Kostas Fragogiannis: Die Energiekosten könnten gegenüber 2020 um 30 Prozent sinken. Bisher wird der Dieselkraftstoff für die Generatoren aufwendig und teuer mit dem Schiff nach Astypalea gebracht. Kraftstoffe kosten hier im Schnitt 25 Prozent mehr als auf dem griechischen Festland.
Mikrokosmos als Zukunftslabor
Warum investiert Volkswagen ausgerechnet auf der kleinen Ägäis-Insel? Die Autobranche befindet sich selbst in einer Transformation, weg vom Produzieren fossil angetriebener Fahrzeuge hin zu Elektroautos – und zum Anbieter der Services um diese Fahrzeuge herum, mit denen künftig die höchsten Erträge winken. Es fehlen aber Daten zum Transformationsprozess – wo liegen die Hindernisse, die Menschen im Alltag davon abhalten, sich für elektrische Mobilität zu entscheiden? Wo die Fallstricke beim Aufbau der benötigten Infrastruktur?
Astypalea bietet einen entscheidenden Vorteil: Die Komplexität ist beherrschbar. Rund 1.300 Menschen leben ganzjährig auf der Insel, im Sommer kommen bis zu 5.000 Besucher und Saisonkräfte zusätzlich auf die Insel. Es gibt kein konkurrierendes Verkehrssystem, die weitestmögliche Fahrstrecke beträgt rund 35 Kilometer und zurück. Deshalb, so glaubt Volkswagen-CEO Herbert Diess, lassen sich hier in fünf Jahren Umstellungen vornehmen und Erfahrungen sammeln, die anderswo Jahrzehnte dauern. Der griechische Staat erhofft sich ein Modell, das sich auf andere entlegene Regionen übertragen lässt. Davon gibt es sowohl in der Ägäis als auch auf dem Peloponnes, in der Region Mazedonien und auf der großen Insel Kreta einige.
Elektroautos statt alter Autos?
„Da Volkswagen eine große Firma ist, habe ich die Hoffnung, dass das Projekt zum Erfolg wird und die Eckpfeiler, die jetzt aufgestellt werden, sich am Ende als richtig erweisen“, sagt Nikolaos Komineias, Bürgermeister von Astypalea. Dennoch: Bei der Fahrt über die zu großen Teilen naturbelassene Insel entstehen Fragezeichen. Mit einem Durchschnittseinkommen von knapp 1.500 Euro im Monat bewegt sich Griechenland nach langen Krisenjahren im unteren Drittel der EU-Staaten. Im Tourismus, der die meisten Menschen auf den Inseln beschäftigt, liegen die Löhne noch einmal niedriger.
Entsprechend fahren viele Astypaliten alte Autos mit simpler Technik, die sich mit geringem Aufwand am Laufen halten lassen. Oder greifen zu einem gebrauchten Roller oder Motorrad, die es schon für niedrige dreistellige Beträge gibt. Die Landwirtschaft in den entlegenen Bergregionen mit ihren unbefestigten Pisten wäre ohne robuste Pick-ups wie Toyota Hilux oder Nissan Navara kaum vorstellbar, auch sie sind oftmals betagt. Aus der Flotte der patinierten Gebrauchsfahrzeuge stechen nur die neuen Mietwagen für die Besucher*innen hervor.
Es fällt schwer sich vorzustellen, dass die Einwohner*innen von Astypalea demnächst in größerer Zahl zu nagelneuen ID.3 greifen werden – auch, wenn diese stark subventioniert sind, kosten sie trotzdem einen fünfstelligen Betrag. Die Elektroroller von Seat kosten ebenfalls nach Abzug der Subventionen noch mehr als eine fabrikneue Vespa, die sich hier kaum jemand leistet.
Das Stromnetz muss ertüchtigt werden
Das ist nur ein Teil der Herausforderungen, die vor der kleinen Insel liegen. Das Stromnetz und die Energieversorgung könnten sich als noch größeres Problem erweisen. Bisher verlaufen die Leitungen überirdisch, windschiefe Holzpfeiler tragen dünne Kabel auch in entlegene Regionen. Einwohner*innen der Dörfer rund um den Hauptort Chora herum berichten von häufigen Stromausfällen und von Problemen, mehr als ein Haushaltsgerät gleichzeitig zu betreiben. Über Sonne und Wind verfügt Astypalea zwar im Überfluss. Eine Speicherbatterie könnte den damit erzeugten Strom konstant für einige hundert Fahrzeuge und die Haushalte und kleinen Farmen bereithalten. In der Fläche jedoch muss das System dafür ertüchtigt werden.
Noch größere Verwerfungen drohen durch das intransparente Vorgehen der konservativen Regierung Mitsotakis bei der Dekarbonisierung der Energieversorgung in der Ägäis. Der griechische Staat plant hier Windkraftanlagen in einer Dimension, die den Bedarf der kleinen Inseln erheblich übertreffen – ebenso die Widerstandskraft ihrer empfindlichen Ökosysteme. In wenigen Jahren, so lassen sich die Pläne lesen, soll die wind- und sonnenreiche Insellandschaft zur „Batterie Europas“ werden: Der Verkauf von grünem Strom an die Nachbarländer im Norden könnte Griechenland hohe Einnahmen bescheren. Die genehmigten Ausbaupläne übertreffen den geschätzten Bedarf bis 2030 um rund 100 Prozent.
Angst vor zu viel “grüner” Energie
Nur: Wie grün kann Strom sein, wenn für den Aufbau der Windparks die Jahrtausende alte Kulturlandschaft der griechischen Inseln aufs Spiel gesetzt wird? Allein für den Transport der Bauteile für Windgeneratoren müssten auf vielen Inseln neue Straßen gebaut werden, an Orten, wo noch nie ein Verbrennungsmotor lief. Entsprechende Pläne existieren etwa für den Bergrücken von Amorgos, wo laut einem Plan der Regierung 73 Windräder auf den bisher nur von Eselspfaden und verlassenen Terrassenwirtschaften durchzogenen Felsen entstehen sollen. Für den Energiebedarf der Insel wären zwei Turbinen genug. Die kleine Insel Agios Georgios am Saronischen Golf, die bereits zum Windpark umgestaltet ist, dient mancher Bewohner*in der Ägäis als Beispiel, wie ihre Insel auf keinen Fall aussehen darf. Dort gibt es nichts mehr außer Windturbinen und Versorgungsstraßen.
Einen solchen Windpark wird es daher nach dem Willen der lokalen Verwaltung nicht geben, ebenso wenig eine Stromtrasse von der Insel weg. Die Anlagen zur Gewinnung regenerativer Energien sollen vor allem Solarenergie erzeugen und sich am tatsächlichen Bedarf orientieren. Es ist nun an Volkswagen und der griechischen Regierung, die Menschen zu überzeugen. Denn gelingen kann die Transformation zur grünen Pilot-Insel in der Ägäis nur mit Unterstützung und Mitwirkung der Einheimischen.
Chalki wird das zweite Projekt
Astypalea ist nicht das einzige Projekt dieser Art. Neben dem deutschen Autobauer arbeitet Griechenland mit weiteren Partnern zusammen. Mit französischer Hilfe erhält eine Reihe kleiner Ägäisinseln eine autarke, regenerative Energieversorgung. Den Auftakt macht Chalki im Regionalbezirk Rhodos. Die Insel besitzt mit dem Hafenort Emborios nur einen einzigen bewohnten Ort. Rund 500 Menschen leben auf der Insel. Die meisten Tourist*innen sind Tagesausflügler von Rhodos. Auch auf Chalki stammt der Strom für das Projekt aus einer Photovoltaik-Anlage. Das französische Bau- und Infrastrukturkonzern Vinci sowie das Energieunternehmen Akuo errichten im Norden der Insel eine entsprechende Anlage, die künftig Unternehmen, Haushalte und Elektroautos auf der Insel mit Strom versorgt.
Die Elektroautos bringt in diesem Fall Citroën auf die Insel. Der französische Autohersteller stattet damit zunächst die Behörden aus. Polizei und Küstenwache versorgt Citroën mit dem Kleinstwagen Ami. Als kommunale Fahrzeuge dienen der Kompaktwagen ë-C4, der Van ë-SpaceTourer und der Kleintransporter ë-Jumpy. Die Fahrzeuge erhalten die Behörden über einen kostenlosen, 48-monatigen Leasingvertrag. Nach eigenen Angaben will Citroën einige der Fahrzeuge im Anschluss zurückkaufen und sie der Gemeinde spenden. „Wir setzen uns dafür ein, die Elektrifizierung für alle zugänglich zu machen und sind sehr stolz darauf, zur Umwandlung von Chalki in eine autarke, smarte und nachhaltige Insel beizutragen“, erklärte Citroën-CEO Vincent Cobée. Vodafone soll außerdem ein 5G-Netz aufbauen, um neben Dienstleistungen für die wenigen Einwohner*innen auch “digitalen Nomaden” das Arbeiten auf der kleinen Insel zu ermöglichen.
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