Cambio: Mailands Farradplan gegen den Verkehrsinfarkt
Mailand plant den großen Wurf: Italiens-Stau-Stadt Nr. 1 will bis 2035 ein 750 km langes Vorrang-Radroutennetz bauen. Als entscheidenden Entwicklungsimpuls.
Italien liebt das Radfahren. Zumindest als Sport: Nirgendwo sonst in Europa findet sich eine so dichte Population an „Mamils“ („middle aged men in lycra“ – frei übersetzt: ältere Herren in Radlerhosen). Im Alltag sieht das anders aus. Denn die meisten Städte sind auf Radverkehr kaum vorbereitet: Im Zentrum oft zu eng, an den Magistralen chronisch verstopft – und überwiegend frei von sicheren, schnellen Radwegelösungen.
Mailand plant nun den großen Entwicklungsschub: Die Metropole in der Lombardei will eine Fahrradstadt werden. Sie bildet mit rund 1,4 Millionen Menschen die zweitgrößte Stadt Italiens und ist ein wirtschaftlicher Hotspot. Mode, Medien, die italienische Börse und gleich zwei große Fußballclubs residieren hier. Schon historisch war Mailand der wichtigste Knotenpunkt in Norditalien, und ist heute chronisch mit Stau und Luftverschmutzung belastet. Mailand ist Italiens Stau-Hauptstadt, wie Daten des Navi-Anbieters TomTom zeigen. Noch vor Rom und Neapel. Nur im engsten Innenstadtbereich rund um den Dom finden sich Fußgängerzonen.
Zwei Dinge haben die Stadtverwaltung ermutigt, ihre Prioritäten neu zu setzen: Um die U-Bahn zu entlasten, baute Mailand während der Corona-Pandemie 35 Kilometer Popup-Radwege entlang der Magistralen. Die Zahl der Radfahrenden auf diesen Strecken hat sich daraufhin mehr als verdreifacht. Und: Das Vorbild von Paris. Dort setzt Bürgermeisterin Anne Hidalgo in kurzer Zeit ein ehrgeiziges Fahrradprogramm durch. Das zeigt: Es geht.
Mailand plant 750 km
Mailands Plan ist ehrgeizig: Bis 2035 soll das sogenannte „Cambio“-Netzwerk 750 Kilometer Radwege umfassen. Es umfasst vier Ringlinien und 16 Radialstrecken, die das Zentrum mit dem Umland verbinden. Ein Großteil der Wege soll dabei als schneller Korridor ausgebaut werden, mit eigener Streckenführung und Ausstattung: Digital gesteuerte Informationssysteme gehören ebenso dazu wie eine intelligente Beleuchtung, die Lichtverschmutzung minimiert.
Die Stadt Mailand rechnet mit 300.000 Euro Baukosten pro Kilometer, und insgesamt mit 225 Millionen Euro Investition. Klingt viel, ist es aber nicht – bedenkt man den avisierten Zeitraum von fast 15 Jahren. Das Geld ist zudem gut angelegt, glaubt die Stadtverwaltung. Entfallen 20 Prozent aller Wege künftig auf das Fahrrad, errechnet sie Einsparungen und wirtschaftliche Vorteile im Gegenwert von mehr als einer Milliarde Euro. Die Gründe: weniger Stau, flüssigerer Verkehr, weniger Unfälle, bessere Gesundheit und weniger Umweltschäden.
„Die Entwicklung des Fahrradverkehrs führt zu einer Reduktion von Treibhausgasen, schafft grüne Korridore zum Schutz der Biodiversität, schafft mehr Sicherheit für Radfahrende und verbessert die öffentliche Gesundheit“, schreibt die Verwaltung. Erfolge sollen zügig sichtbar werden: Den ersten Bauabschnitt der Linie 6 Richtung Caravaggio im Osten der Stadt möchte Mailand bereits bis zum Mai 2022 fertigstellen.
In die Planung der Routen flossen bereits umfassende Verkehrs-Beobachtungsdaten ein. Von wo nach wo möchten die Leute gelangen? Die Stadt ermittelte die wichtigsten Ziele: Schulen, Krankenhäuser, Bahnstationen, Einkaufsstraßen, Arbeitsstätten. Die Radschnellwege sollen so geplant werden, dass sie von 86 Prozent der Wohnviertel, 77 Prozent der Unternehmen, 78 Prozent der Arbeitsstätten, 79 Prozent der Schulen, 83 Prozent der Bahnhöfe und 74 Prozent der Gesundheitseinrichtungen maximal einen Kilometer entfernt liegen.
Mailand orientiert sich an den Niederlanden
So soll das Radfahren zur „offensichtlichen Wahl“ werden: schnell, gesund, sicher und für alle bezahlbar. Dabei sollen insbesondere solche Gruppen zum Fahrrad finden, die es heute kaum nutzen. Kinder etwa oder Senioren, aber auch Geschäftsleute. Die Trennung der Verkehrsträger, das in sich abgestimmte Netz und der Vorrang fürs Fahrrad sollen auch auf längeren Strecken für eine wettbewerbsfähige Reisegeschwindigkeit sorgen.
Kurz und gut: Mailand orientiert sich bei seinem Vorhaben am Goldstandard der Niederlande. Der Ansatz des großen Wurfs anstelle isolierter Projekte bringt dabei sicher Vorteile – löst aber nicht den Konflikt, der zwangsläufig entsteht, wenn das neue Netz auf dem Fundament bestehender Verkehrsanlagen errichtet wird. Mag auch die Idee für das Cambio-Netz von Paris beeinflusst sein, ist es das geplante Ausbautempo nicht unbedingt. Was aber nicht schlimm ist, solange die Stadt auf dem Weg dahin die richtigen Prioritäten setzt und Strecken mit großer Bedeutung zuerst realisiert.
Dann könnten die angepeilten Zielmarken (20 Prozent innerstädtischer und 10 Prozent interkommunaler Radverkehr) sich sogar als eher konservativ herausstellen. Zum Vergleich: Berlin lag mit seiner großen Fläche und seinem lückenhaften Radwegenetz bei der letzten Erhebung im Jahr 2018 bei 18 Prozent Radverkehr. Für Mailands einpendelnden Verkehr könnten jedoch auch die angepeilten 10 Prozent schwer erreichbar sein.
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