„Was den öffentlichen Verkehr betrifft, leben wir in der Steinzeit“

Verkehrsexperte Knie kritisiert das Abo-Upgrade im ÖPNV und fordert ein Umdenken der Verkehrsunternehmen. Das beginnt schon mit den Dienstwagen der Vorstände.

Zu sehen ist ein Bahnhof (ÖPNV)
Im September 2021 können Abokunden von Verkehrsunternehmen in fast allen deutschen Städten kostenlos Bus und Bahn nutzen [Bildquelle: Markus Mainka/picture alliance]

Es ist eine einzigartige Aktion des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV): Vom 13. bis zum 26. September 2021 können Besitzer eines Nahverkehsabos in fast allen deutschen Städten gratis fahren. Was der VDV als „dickes Dankeschön an treue Fahrgäste“ bewirbt, ist für Verkehrsexperte Professor Andreas Knie nur „ein kleiner Tropfen auf einen riesigen, heißen Stein“. Der Leiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin wirft den Verkehrsunternehmen Symbolpolitik vor und fordert im Interview ein radikales Umdenken beim öffentlichen Verkehr. Nur dann könne die Verkehrswende gelingen.

mobility.talk: Professor Knie, wie bewerten Sie das Abo-Upgrade im Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV)?

Knie: Mir kommen sofort drei Dinge in den Kopf, wenn ich daran denke. Erstens: Warum ist das nicht immer so? Und zweitens, warum ist es kompliziert immer und überall einfach in den ÖV einzuchecken. Im Ausland ist das vielerorts längst Usus. In Spanien, Österreich kann ich mit meiner Monatskarte überall Bus und Bahn nutzen, schon seit Jahren. Jetzt haben wir ein zweiwöchiges Experiment. Das ist zwar löblich und ein Schritt in die richtige Richtung. Aber leider ist das Ganze organisatorisch schlecht umgesetzt ist. Ich muss mich als Abo-Kunde für dieses Upgrade registrieren, um die Vorteile nutzen zu können. Ich muss also vorher davon erfahren haben, dass es das gibt. Ich will proaktiv angesprochen werden und mich nicht erst durch Anmeldemasken klicken.

mobility.talk: Und Drittens?

Knie: Aufs Ganze geblickt: Es ist ein kleiner Tropfen auf einen riesigen, heißen Stein. Es ist letztlich nur Symbolpolitik.

mobility.talk: Wie viele Menschen werden de facto davon profitieren? Wer fährt mit seiner Berliner Monatskarte in München mit der S-Bahn?

Knie: Es gibt dazu keine genauen Zahlen. Man kann davon ausgehen, dass etwa zehn Prozent der Kunden ihre ÖPNV-Abos auch in anderen Gebieten fahren. Dieser Prozentsatz ließe sich jedoch deutlich erhöhen, wenn man diesen Anreiz dauerhaft schaffen würde. Die Bahncard 100 kann all das schon – leider weiß das nur kaum jemand.

Abrechnung nach dem Prinzip "Pay as you go"

mobility.talk: Ist es nicht auch eine Kostenfrage? Der ÖPNV hat stark unter der Pandemie mit Home Office und Distanzunterricht an Schulen und Universitäten gelitten.

Knie: Es geht ja noch weiter, auch Restaurant- und Kinobesuche haben nicht stattgefunden, man hat sich weniger besucht und weniger Ausflüge gemacht. Die Busse und Bahnen waren deutlich schlechter ausgelastet als vor der Pandemie, und natürlich haben viele Kunden in der Zeit auch ihre Abos beendet bzw. werden dies noch tun.

mobility.talk: Was muss passieren, damit der ÖPNV wieder attraktiv wird?

Knie: Er muss Angebote machen, die den Bedürfnissen der Kunden entsprechen. Die Tarife müssen digitalisiert werden und wir müssen zu einer Abrechnung nach dem Prinzip „Pay as you go“ kommen.

Zu sehen ist Professor Andreas Knie
Professor Andreas Knie forscht am Wissenschaftszentrum Berlin zu Zukunftsfragen der Mobilität [Bildquelle: Philipp Brandstädter/dpa/picture alliance]

mobility.talk: Was meinen Sie damit?

Knie: Jeder Kunde bezahlt nur so viel, wie er tatsächlich auch fährt. Nach der Fahrt wird jeweils der beste Tarif abgerechnet, das lässt sich über Check-in und Check-out technisch sehr einfach umsetzen. Mittlerweile ist die Abdeckung mit Smartphones bis in alle Winkel unserer Bevölkerung so groß, dass das kein Hinderungsgrund mehr ist. Das bisherige System, im Vorfeld eine Monatskarte kaufen zu müssen, die man dann gefälligst wieder „reinfahren“ sollte, ist absolut nicht zeitgemäß. Die Leute wollen keine Ticketautomaten, in die sie Bargeld werfen können. Die sind mittlerweile fast auf der ganzen Welt abgeschafft, nur in Deutschland noch nicht. Was den öffentlichen Verkehr betrifft, leben wir noch in der Steinzeit.

mobility.talk: Warum ist das so?

Knie: Der öffentliche Verkehr bewegt sich nicht. Es geht nur darum, Einnahmenverluste auszugleichen. ich vermisse eine Vision davon, wie ein moderner ÖPNV aussehen könnte.

mobility.talk: Wie lautet Ihre Vision?

Knie: Ich bin überzeugt, dass vor allen Dingen auf dem Land, wo der öffentliche Verkehr schon lange keine Alternative zum Auto ist, eine Art „Erneuerbares Mobilitätsgesetz“ (EMG) viele Probleme lindern könnte. Wir erinnern uns: Das Erneuerbare Energien-Gesetz (EEG) hat deshalb so gut funktioniert, weil plötzlich jeder Privatmensch mit einer Photovoltaik-Anlage auf dem Dach Strom ins öffentliche Netz einspeisen konnte und dafür entschädigt wurde. Wenn jeder Besitzer eines Elektroautos kenntlich machen könnte, dass in seinem Fahrzeug noch vier Plätze für den Weg von A nach B zu einer bestimmten Uhrzeit frei sind, würde das vielen Menschen helfen.

"In Zukunft benötigen wir die Hälfte der Autos"

mobility.talk: Das klingt wie eine Weiterentwicklung der Geschäftsidee von Uber.

Knie: Ja und nein. Erstens geht es um Elektromobilität. Und zweitens brauchen wir eine Plattform, die online die Angebote von öffentlichem Verkehr und Privatfahrzeugen kombiniert. Die Menschen wollen ihren Lebensrhythmus nicht nach einem Fahrplan und einem Bus, der um 17.12 Uhr fährt, ausrichten. Sondern sie wollen von A nach B und suchen nach der besten Lösung dafür. Fahrzeughalter würden dann dafür bezahlt, wenn sie diese Personen mitnehmen, und zwar nicht mit den obligatorischen 35 Cent pro Kilometer, sondern mit meinetwegen 85 oder 95 Cent. Für ein gutes EMG bräuchte es eine Novelle des Personenbeförderungsrechts und noch einige andere Dinge. Aber ich bin sicher: Das würde helfen.

mobility.talk: Also kommt dem Auto auch in Zukunft eine zentrale Rolle zu?

Knie: Natürlich, gerade im ländlichen Raum wird das Auto das Maß der Dinge bleiben. Ich gehe aber davon aus, dass wir nur noch die Hälfte der Autos auch in Zukunft benötigen werden. Wir müssen sie umweltfreundlicher machen und intelligenter nutzen. Und wir müssen die Überprivilegierung des Autos beenden. Wir dürfen nicht vergessen: Autos sind ein Thema für die Mittel- und Oberschicht der Gesellschaft. Es gibt sehr viele Menschen, die sich gar kein Auto leisten können oder wollen. Die profitieren in keiner Weise von Dingen wie Innovationsprämien beim Kauf eines Elektroautos, Steuererleichterungen für Dienstwagen und Gratis-Parkplätze im öffentlichen Raum.

Zu sehen ist ein Bus auf dem Land
In ländlichen Regionen hat der Bus als Verkehrsmittel keine Zukunft mehr, glaub Professor Knie [Bildquelle: Soeren Stache/picture alliance]

mobility.talk: Wir haben jetzt viel über das Auto gesprochen. Es heißt doch immer, der ÖPNV sei das Rückgrat der Verkehrswende.

Knie: Das stimmt auch, aber wir müssen differenzieren. Der Bus zum Beispiel hat in ländlich besiedelten Gebieten keine Zukunft mehr. Er fährt selten, ist schlecht ausgelastet und, das ist das wichtigste, passt nicht mehr zu den Bedürfnissen der Menschen. Schauen Sie sich doch an, wer auf dem Land noch Bus fährt. Nur Azubis, Schüler und Menschen, die sich kein eigenes Auto leisten können.

mobility.talk: Aber auch die haben doch ein Recht auf Mobilität.

Knie: Genau, deswegen brauchen wir ja ein MEG. In Stadtgebieten spielt der ÖPNV natürlich eine ganz wichtige, entscheidende Rolle, wenn es um die Verkehrswende geht. Aber nur, wenn er sich mit digitalisierten, intermodal verknüpften Angeboten an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Dafür müssen sich aber schnell viele Dinge ändern. Schauen Sie, wir haben in diesem Bereich im Moment zum Beispiel gar keinen Produktstolz. Damit sich das ändert, müssten die Vorstände der öffentlichen Verkehrsbetriebe zum Beispiel einfach mal ihre Dienstwagen abgeben.

mobility.talk: Wie bitte?

Knie: Das kann es natürlich nicht per Gesetz geben, es müsste eine moralische Verpflichtung sein. Erst dann würden die Entscheider nämlich hautnah miterleben, welche Defizite es in puncto Sauberkeit und Sicherheit gibt. Und nur wer die Defizite kennt, wer jeden Tag mit U- oder S-Bahn ins Büro fährt, kann diese Schwächen glaubhaft bekämpfen.

mobility.talk: Was passiert, wenn die von Ihnen skizzierte Digitalisierung nicht gelingt?

Knie: Dann wird der öffentliche Verkehr nur noch Zwangskunden haben, also Menschen, die kein Auto haben oder nicht fahren können. Dann wäre die Verkehrswende allerdings endgültig misslungen, weil dieses Szenario eine weitere Zunahme der Autos bedeutet. Ohne den öffentlichen Verkehr gibt es keine Verkehrswende. Aber dafür muss er sich ändern.

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