Kann die Deutsche Bahn Verkehrswende, Herr Kosok?
Der Koalitionsvertrag verspricht der Deutschen Bahn mehr Geld für die Verkehrswende. Ist der Konzern dieser Herausforderung gewachsen? Philipp Kosok von der Agora Verkehrswende erläutert im Interview die nötigsten Maßnahmen.
Das erste Zeichen setzte Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrer ersten Dienstreise: Den Weg von Paris nach Brüssel legte sie per Zug zurück. Und ließ sich dabei ausgiebig fotografieren. Es ist eine der spannendsten Fragen der nächsten Jahre: Wie ernst meint es die neue Bundesregierung mit der Verkehrswende? Neben der Elektromobilität soll der Bahnverkehr eine entscheidende Rolle spielen. Zumindest steht das so im Koalitionsvertrag. Ist die Deutsche Bahn dieser Herausforderung überhaupt gewachsen? Philipp Kosok, Projektleiter Öffentlicher Verkehr beim Thinktank Agora Verkehrswende, sagt, welche Schritte die Regierung jetzt als erstes tun muss. Und warum die Bahn besser ist als ihr Ruf.
mobility.talk: Im Koalitionsvertrag heißt es wörtlich: „Wir wollen erheblich mehr in die Schiene als in die Straße investieren, um prioritär Projekte eines Deutschlandtaktes umzusetzen.“ Was heißt das genau, Herr Kosok?
Philipp Kosok: Dieser Satz war längst überfällig. Der Deutschlandtakt ist der zentrale Fahrplan, wie in Deutschland Bahnverkehr stattfinden soll. Er wurde bereits in der vergangenen Legislaturperiode ausgearbeitet und wird nun hoffentlich umgesetzt.
mobility.talk: Was verbirgt sich konkret dahinter?
Philipp Kosok: Es ist ein ganz neues Organisationskonzept. Eine Zielvorstellung für den Fahrplan in Deutschland. In welchen Bahnhöfen soll es welche Umstiege geben? Wo muss der Takt erhöht werden?
Spannend ist, dass jetzt klar wird, auf welchen Strecken Ausbaubedarf besteht.Weil dort noch gar nicht so gefahren werden kann, wie es der Deutschlandtakt vorsieht.
Der Bahnverkehr erhält endlich eine sinnvolle Zielvorstellung für die kommenden Jahre. Bislang ist stets mehr Geld in den Straßenbau als in den Schienenausbau geflossen. Ich erwarte nun, dass sich das umkehrt. So, wie es im Koalitionsvertrag angekündigt wird.
mobility.talk: Ist das jetzt der Durchbruch für eine echte Verkehrswende?
Philipp Kosok: Es ist zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich erwarte, dass im kommenden Haushalt deutlich mehr Mittel für den Neu- und Ausbau von Schienen bereitgestellt werden. Wir rechnen damit, dass umgehend etwa drei Milliarden Euro pro Jahr nötig sein werden, um bis 2030 in der Lage zu sein, den Deutschlandtakt zu fahren.
mobility.talk: Bislang zeichnen sich Bahnprojekte dadurch aus, dass sie Jahrzehnte dauern und hohe Milliardensummen kosten. Ist dieser Wandel, den Sie da skizzieren, überhaupt in so kurzer Zeit umsetzbar?
Philipp Kosok: Das ist ein wahnsinnig ambitionierter Plan. Wenn wir alles richtig machen, dann können die Fahrgäste bis 2030 einen Großteil der geplanten Maßnahmen erleben. Einige Projekte werden trotzdem noch bis 2033, 2034 dauern. Dafür dürfen aber jetzt keine Fehler wie in der Vergangenheit mehr passieren.
mobility.talk: Welche Fehler meinen Sie?
Philipp Kosok: Es wurde zu oft auf riesige Projekte mit fragwürdigem Nutzen gesetzt. Stuttgart 21 ist das prominenteste Beispiel. Das darf es in Zukunft nicht mehr geben, wenn wir bis 2030 weite Teile des Deutschlandtaktes umsetzen wollen. Künftig werden wir weniger Fokus auf Hoch- und Höchstgeschwindigkeitsstrecken erleben. Stattdessen wird es darum gehen, viele kleine und mittlere Projekte umzusetzen. Das ist mal ein drittes und ein viertes Gleis oder eine zusätzliche Weiche. Das sind die Dinge, die wirklich die Leistungsfähigkeit des Schienennetzes erhöhen. Dafür braucht es Planungssicherheit und auch die nötigen Kapazitäten. Die sind in der Vergangenheit zu oft in den Bau von Straßen geflossen.
„Wir werden viele Baustellen erleben“
mobility.talk: Worauf müssen sich Bahnreisende gefasst machen?
Philipp Kosok: Wir dürfen uns nichts vormachen. Diese Projekte lassen sich nicht über Nacht realisieren. Wir werden in den kommenden Jahren viele Baustellen erleben. Da wir weniger über Neubau als über den Ausbau der Bestandsstrecken reden, werden sich Beeinträchtigungen für die Fahrgäste nicht vermeiden lassen.
mobility.talk: Die Bahn hatte bis jetzt schon genug Imageprobleme: Verspätungen, hohe Preise, die Debatten um 3G-Kontrollen. Wenn jetzt auch noch Baustellen dazu kommen – wie soll das Unternehmen dann zur Lokomotive der Verkehrswende werden?
Philipp Kosok: Die Wahrnehmung, die Sie ansprechen, bezieht sich nur auf einen Ausschnitt des Bahnverkehrs. Ja, im Fernverkehr gibt es große Probleme mit der Pünktlichkeit. Das führt maßgeblich zu dem Image, das Sie skizzieren. Dieser Zustand liegt allerdings zu großen Teilen daran, dass das Schienennetz den heutigen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Es ist kaum möglich, auf dem bestehenden Netzwerk einen pünktlichen Fernverkehr zu gewährleisten. Die Anzahl der Züge auf dem Streckennetz ist gewachsen, parallel ist das Schienennetz geschrumpft. Vor allem an Knotenpunkten wie Frankfurt oder Köln sind regelrechte Flaschenhälse entstanden. Die angesprochenen Modernisierungsmaßnahmen werden helfen, diese Probleme zu reduzieren. Dann wird auch das Image wieder besser. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Fahrgastzahlen bis zum Ausbruch der Pandemie Jahr für Jahr gewachsen sind. Im Fern- wie im Nahverkehr. Es scheint also in den vergangenen Jahren auch nicht alles schlecht gewesen zu sein.
mobility.talk: Während der Koalitionsverhandlungen wurde eine Zerschlagung der Bahn diskutiert. Das scheint nun vom Tisch. Ist das die richtige Entscheidung?
Philipp Kosok: Die Frage drehte sich um eine mögliche Trennung von Infrastruktur und Zugbetrieb. Das hätte schon eine gewisse Logik gehabt. Ein Schienennetz steht im Gegensatz zum Bahnangebot in keinem Wettbewerb. Das wird einmal gebaut und soll dann allen Bahnunternehmen zur Verfügung stehen. Deswegen macht es wenig Sinn, ein Schienennetz innerhalb einer Aktiengesellschaft zu verorten, wo es um Gewinnerzielung geht. Ein unabhängiges Schienennetz, das nicht dem Gewinnziel einer Aktiengesellschaft verpflichtet ist, wäre ein Weg zu geringeren Ticketpreisen. Dieser Gedanke ist nicht gestorben und ich hoffe, dass er weiter verfolgt wird. Eine derartige Aufspaltung des Bahnkonzerns ist allerdings eine Mammutaufgabe und innerhalb einer Legislaturperiode kaum zu stemmen. Dennoch erwarte ich, dass beide Bereiche künftig besser aufeinander abgestimmt werden. Dazu gehört, dass das Schienennetz innerhalb des Konzerns anders bewertet wird. Es bringt nichts, das Schienennetz mit Konzernbereichen wie dem Nah- und Fernverkehr, die ganz andere Gewinnabsichten verfolgen, gleichzusetzen.
mobility.talk: Sie sprechen die privaten Bahnanbieter an. Welche Rolle spielen die mit Blick auf der Verkehrswende?
Philipp Kosok: Die spielen eine wahnsinnig große Rolle. Im Nah- und Güterverkehr haben private und ausländische Anbieter einen deutlich höheren Marktanteil als die Deutsche Bahn. Lediglich im Fernverkehr erbringt die Deutsche Bahn 99 Prozent des Geschäfts. Wenn man sich die Bereiche mit einer hohen Durchdringung mit mehreren Anbietern anschaut, erkennt man eine klare Erfolgsgeschichte. Seit sich im Nahverkehr viele private Anbieter tummeln, sind die Fahrgastzahlen spürbar gestiegen. Zeitgleich sind die Preise für die Länder, die diese Verkehrsleistung kaufen, gefallen. Heute ist dieser Markt in gewisser Weise gesättigt. Aber es ist gut, dass wir den Wettbewerb haben.
mobility.talk: Ist das ein Modell für den Fernverkehr?
Philipp Kosok: Dieser Wettbewerb hat Vorteile, kann aber auch ruinös enden. Wir sehen das bereits in bestimmten Bereichen des Nahverkehrs. Im Fernverkehr haben Anbieter wie Flixtrain oder die ÖBB gute Fernverkehrsangebote geschaffen. Dennoch gibt es quasi keinen Wettbewerb, weil die Hürden für den Markteintritt wahnsinnig hoch sind. Deswegen ist die neue Bundesregierung gefordert, die Wettbewerbsvoraussetzungen zu verbessern und den Zugang für private Anbieter zu erleichtern.
Das Auto genießt zu viele Privilegien
mobility.talk: Der Flixtrain-Geschäftsführer Andre Schwämmlein bemängelte unlängst fehlende Chancengleichheit, da die Angebote seines Unternehmens in den Kundenportalen der Deutschen Bahn sehr stiefmütterlich behandelt würden.
Philipp Kosok: Diese Kritik kann ich sehr gut verstehen. Es ist heute unnötig kompliziert, Tickets zu kaufen, wenn ich mich außerhalb des DB-Konzerns bewegen möchte. Jeder, der mal versucht hat, von Berlin nach Paris oder Barcelona mit dem Zug zu fahren, stellt fest, dass es nahezu unmöglich ist, ein durchgehendes Ticket zu kaufen. Das scheitert an der fehlenden Bereitschaft der Deutschen Bahn, entsprechende Kooperationsangebote zu schaffen. Es hilft nichts, hier noch länger auf den guten Willen der Deutschen Bahn zu setzen. Es braucht klare Regeln für den Zugang zu Tickets.
mobility.talk: Wie könnten die aussehen?
Philipp Kosok: Ich denke da an eine europäische Plattform, die zentral die Abwicklung des Ticketverkaufs regelt. Das würde es deutlich leichter machen, quer durch Europa zu reisen. Außerdem würde die Preisgestaltung so viel transparenter werden.
mobility.talk: Nach allem, was Sie erläutert haben: Ist die Deutsche Bahn ihrer Verantwortung für die Verkehrswende gewachsen?
Philipp Kosok: Die Deutsche Bahn muss die Verkehrswende ja nicht allein bewältigen. Wir müssen dazu kommen, dass es die gesamte Bahnbranche leisten kann. Die Verkehrspolitik hat in der Vergangenheit wenig Raum für Innovationen gegeben. Insofern macht mir der aktuelle Koalitionsvertrag Hoffnung, wenngleich ich an manchen Stellen mehr erwartet hätte.
mobility.talk: Was genau?
Philipp Kosok: Ich hätte mir klarere Aussagen zur Förderung des Bahn- und besser noch des gesamten Mobilitätssystems gewünscht. Wir müssen auch an die konkurrierenden Verkehrsangebote ran. Stichwort Billigflüge quer durch Europa. Es ist extrem unfair, dass hier im Gegensatz zur Bahn keine Kerosin- und Mehrwertsteuern erhoben werden. Auch im Straßenverkehr sieht es ähnlich aus. Das Auto genießt sehr viele Privilegien, die den Wettbewerb um Fahrgäste für die Deutsche Bahn sehr schwer machen.
Dennoch glaube ich, dass das Bekenntnis zum Schienenverkehr dafür sorgen wird, dass sich das Bahnangebot in den kommenden Jahren spürbar verbessert. Glücklicherweise ist die Bundesregierung in ihren Entscheidungen nicht völlig frei, sondern an die verbindlichen Klimaschutzziele gebunden. Daraus resultieren sehr konkrete Emissionszahlen für den deutschen Verkehr. Die kann Deutschland nur erreichen, wenn deutlich mehr Verkehr auf der Schiene stattfindet.
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