Dieses E-Fahrzeug erzeugt mehr Strom als es verbraucht

Von der Stammtisch-Idee auf die Straße: Ein E-Fahrzeug, das sich selbst mit Strom versorgt. Ohne Ladesäule. Gibt’s nicht? Gibt’s doch! Und zwar in der Schweiz.

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Dennis Merla
Lynx elektrischer Muldenkipper
58 Tonnen bringt der elektrische Muldenkipper im leeren Zustand auf die Waage. Voll beladen wiegt das Fahrzeug rund 120 Tonnen [Bildquellle: eMining AG]

Das größte, schwerste und stärkste Elektroauto der Welt fährt in der Schweiz. In einem Steinbruch in Péry im Berner Jura transportiert ein elektrischer Muldenkipper Kalk- und Mergelgestein vom Berg herunter zur Brecheranlage in der Talsohle. Das Besondere daran: Der Riesen-Stromer fährt autark und muss im Prinzip nicht geladen werden. Außer, es liegt Schnee.

Bis zu 65 Tonnen Gestein transportiert der Lynx (zu Deutsch: Luchs) genannte Muldenkipper pro Fahrt. Das schweizer Unternehmen E-Mining, mittlerweile eine Tochterfirma der Lithium System AG, hat den Lynx dabei nicht von Grund auf entwickeln müssen. Denn das Fahrzeug ist ein Umbau basierend auf einem gebrauchten Komatsu-Muldenkipper HD 605-7. In seinem früheren Leben fuhr der 58-Tonnen-Koloss mit Diesel. Für den Umbau entfernte E-Mining den Verbrennungsmotor und ersetzte ihn durch zwei Elektromotoren. Der erste, ein 860-PS-starker Synchronelektromotor, übernimmt den Vortrieb des Fahrzeugs. Er mobilisiert 12.500 Newtonmeter Drehmoment. Der zweite E-Motor ist ein kleinerer Asynchron-Elektromotor mit 271 PS. Er versorgt die Hydropumpen für den Kippantrieb, die Servo-Unterstützung und die Bremsanlagen mit Energie.

Das vollbeladen bis zu 120 Tonnen schwere Fahrzeug verlangt viel Energie. Dementsprechend groß fällt der Stromspeicher im Lynx aus. Er besteht aus vier Segmenten mit einer Gesamtkapazität von 700 kWh. Zum Vergleich: das sind etwa 8,5 Batterien eines VW ID.3. Das ganze Batterie-System des Lynx wiegt 4,5 Tonnen. Der Clou: es lädt sich von selbst auf.

Lynx: Vom Stammtisch in den Steinbruch

Ursprünglich handelte es sich dabei um eine „Stammtisch-Idee“, schreibt Lithium System AG. Das 58 Tonnen schwere Fahrzeug wird im Tal ein Mal geladen. Die Batterieladung reicht aus, um hoch auf die Halde zu fahren. Dort angekommen wird der Lynx mit schwerem Gestein beladen. Aus den 58 Tonnen werden so 123 Tonnen. Auf der Talfahrt nutzt der Lynx dann ein klassisches Rekuperations-System, wie man es aus jedem Elektroauto kennt. Heißt: das System speist die Bremsenergie bei der Fahrt ins Tal zurück in den Akku. Und wenn sich 123 Tonnen Richtung Tal bewegen, wird sehr viel Energie frei. Sogar mehr als der Lynx für den anschließenden Weg zurück auf den Berg benötigt. So fährt das Fahrzeug im Betrieb nicht nur Energieautark, theoretisch könnte es sogar noch Strom ins Netz zurückspeisen.

Schnee schmälert die Energiebilanz

Im Realbetrieb benötigt der Lynx diese „überschüssige“ Energie allerdings dann doch häufig selbst. Wie bei anderen Elektroautos auch, fällt im Winter die Energiebilanz schlechter aus – beim Lynx jedoch aus anderen Gründen. Denn hier geht es weniger um die kalten Temperaturen als vielmehr um den Schnee. Dann bekommt der grüne Riesen-Elektro-Muldenkipper Schneeketten auf seine fast zwei Meter hohen Reifen aufgezogen. Sie führen zu einem hohen Mehrverbrauch und machen damit eine Ladestation notwendig. In den schneereichen Monaten hängt der Lynx daher über Nacht an der Steckdose.

Seine Klimabilanz kann sich dennoch sehen lassen. Laut einer Studie der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) spart der Lynx pro Jahr 50.000 Liter Diesel ein. Dafür kostet er aber auch knapp 2,5-mal so viel wie sein Diesel-Pendant.

Der schnellste 58-Tonner auf dem Platz

Zwar baute E-Mining den Lynx auf einem bestehenden Muldenkipper auf. Dennoch mussten für den Betrieb als Elektro-Muldenkipper einige aufwändige Anpassungen erfolgen. Weil es so große Batteriespeicher nicht von der Stange zu kaufen gibt, probierten die Entwickler Batterien mit unterschiedlicher Zell-Chemie auf den Prüfständen einiger Hochschulen aus. Auch die Mulde konnten sie nicht einfach vom Technik-Spender übernehmen. Denn die Dieselfahrzeuge nutzen die Abgase des Verbrennungsmotors, um die Mulde zu beheizen. Das soll ein Ankleben des Transportguts verhindern. „Wir sind zu energieeffizient. Wir haben keine sechzig Prozent Abwärme übrig“, schreibt E-Mining. Deshalb entwickelten sie parallel zum Fahrzeug auch ein neues Muldensystem.

Ansonsten ist der Lynx genauso einsatzfähig wie die Verbrenner-Fahrzeuge – mit den E-Fahrzeug-typischen Vorteilen. So ist der Lynx antriebsseitig sehr leise, man vernehme vom Antrieb nur ein „leises Hochfrequenz-Pfeifen“. Zu hören sind außen nur die Hydraulikpumpen, die das Öl durch den Kreislauf pumpen. „Er fällt eigentlich bloß durch seine Farbe und ab und zu durch ein Überholmanöver auf“, schreibt das Unternehmen. Mit dem Elektroantrieb gehen höhere Beschleunigungswerte einher. Tatsächlich musste vor Inbetriebnahme die Kraftentfaltung, die das Fahrpedal auslöst etwas nach unten korrigiert werden.

Der Lynx in Bildern

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