Fahrangst: Wenn die Angst mitfährt
Wer unter Fahrangst (Amaxophobie) leidet, büßt Lebensqualität ein. So wie Peter und Susanne. Sie erzählen, wie sich ihre Fahrangst äußert und welche Auswege sie sich erarbeitet haben.
Als Kind hatte Peter Höhenangst. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die abstrakte Höhe eines Flugzeugs ist kein Problem. Brücken hingegen stellen ihn vor Herausforderungen. Besonders, seit bei Peter (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) zur Höhenangst die Angst vorm bzw. beim Autofahren dazugekommen ist? Peter fürchtet sich davor, die Kontrolle über sich und sein Auto zu verlieren. Er hat Angst, so überfordert zu sein, dass er einfach auf der Brücke anhält und aussteigt. Was, wenn er hysterisch wird, panisch reagiert, das Steuer plötzlich herumreißt und so sich und andere gefährdet. Peter fürchtet sich vor vielem. Aber seine größte Angst ist die Angst vor der Angst.
Wie Peter leiden schätzungsweise eine Million Deutsche unter Fahrangst. Der Fachbegriff für diese spezielle Form der Angst lautet „Amaxophobie“, die Angst vor bestimmten Fahrsituationen. Das kann das Fahren auf der Autobahn sein, durch eine enge Baustelle oder im dichten Stadtverkehr. Betroffene verbinden diese Situationen mit dem Gefühl des Kontrollverlusts – bezogen auf den eigenen Körper, in Form starker Nervosität oder von Panikattacken. Aber auch bezogen auf das Steuern der komplexen Maschine „Auto“.
Susanne* geht es ähnlich wie Peter. Nur hat sie keine Höhenangst, sie fürchtet die Autobahn. Früher fuhr sie viel mit dem Auto, gerne schnell. Doch vor rund 20 Jahren schlich sich die Angst ein. Zunächst wurden Autobahnen zum Problem, dann kamen Landstraßen hinzu. Heute lösen bei ihr bereits Lärmschutzwände Beklemmungen aus. Ihre Angst hat Einfluss auf „alles, was außerhalb der Wohnung passiert“, sagt sie.
Das Rüstzeug zum Umgang mit der Fahrangst erlernen Betroffene bei Menschen wie Simone Caillé. Sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und seit mehr als 20 Jahren Fahrlehrerin. In ihrer Praxis im mittelhessischen Landkreis Gießen behandelt sie Klienten, die unter Fahrangst leiden. Für mobility.talk erklärt sie, was hinter der Angst steckt – und was dagegen hilft.
Fahrangst: Wenn Angst die Lebensqualität einschränkt
Natürlich weist nicht jede Unsicherheit beim Autofahren auf eine Angstphobie hin. „Mit Unsicherheiten arrangiert man sich im Leben. Es gehört ja dazu, dass man in manchen Bereichen sicherer und in anderen unsicherer ist“, sagt Caillé. Es hänge davon ab, wie groß der individuelle Leidensdruck des Fahrenden ist – also, ob die Unsicherheit beginnt die Lebensqualität zu beeinträchtigen. Typisch für Amaxophobie-Patienten sei die Vermeidung der angstauslösenden Situationen. Damit beginne in der Regel die Abwärtsspirale, und der Leidensdruck weitet sich auf andere Bereiche aus. Besteht zunächst etwa „nur“ die Angst vor dem Fahren auf der Autobahn, trauen sich Betroffene irgendwann auch nicht mehr auf autobahn-ähnliche Landstraßen. Plötzlich entwickeln sich alle Landstraßen zur Kraftprobe.
So geht es Susanne. Sie ist 43 Jahre alt und kommt aus Berlin. Ein Urlaub an der Ostsee bedarf einer genauen Planung. Sie sucht zunächst nach einer Strecke ohne Autobahn. Hat sie eine gefunden, geht es an die genauere Analyse. Dazu schaut sie sich auf Google-Maps die Straßen ganz genau an: Haben sie Ähnlichkeit mit einer Autobahn? Wenn ja, wählt sie eine andere Route. Ist auf der Straße kein Standstreifen vorhanden oder führt sie durch eine Baustelle, meidet sie die Strecke ebenfalls.
Gelingt ihr das nicht, kommt die Angst. Sie beschreibt ein Gefühl der Machtlosigkeit. Sie fühlt sich, als sei sie der Situation ausgeliefert. In schlimmen Fällen steigert sich die Angst bis zu einer Panikattacke. „Erst kribbeln die Finger, es fühlt sich an wie beim Erschrecken“, erklärt Susanne. Danach wird ihr schwindelig und sie bekommt Kreislaufprobleme. Dann muss sie „Energie aus dem Körper lassen“, wie sie es selbst beschreibt. „Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen“ nennt sich das – Muskeln anspannen und wieder lockerlassen. Susanne hilft das, diese Momente durchzustehen.
Die Ursachen für Fahrangst sind vielfältig
Aus ihrer Arbeit berichtet Simone Caillé, dass die Angst vor dem Versagen des Körpers bei Menschen mit Fahrangst weit verbreitet sei. In ihrer Praxis findet sich der Querschnitt der Gesellschaft: vom vielfahrenden Vertreter und Bauunternehmer bis zum Führerscheinbesitzenden, der anschließend keine Fahrpraxis gesammelt hat. Häufig sind es sehr erfolgreiche Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, berichtet Caillé. Die seien umso schockierter, wenn dieser Bereich des Lebens plötzlich nicht mehr funktioniert. Besonders belastend wird es, wenn der Beruf davon abhängt.
Neue Anforderungen im Leben können eine Fahrangst auslösen, erzählt die Therapeutin. Etwa, wenn der Nachwuchs auf der Rückbank sitzt. Auch ein selbst erlebter oder mit angesehener Unfall kann den Startpunkt für eine Amaxophobie bilden. Vielfach sei eine Fahrangst zudem bereits in der Kindheit angelegt. Häufig vergemeinschaftet sie sich mit anderen Angststörungen, etwa sozialen Phobien oder einer Platzangst.
„Männer sind oft verständnisvoller“
Peter führt seine Amaxophobie auf seine Angst vor Brücken zurück. Seit vier Jahrzehnten besitzt er die Fahrerlaubnis. Eigentlich ist er leidenschaftlicher Autofahrer und genießt es, mit seinen Fahrzeugen umherzucruisen. Einen Mazda MX-5 sei er gefahren, erzählt er. Einen zweisitzigen Roadster, der berühmt ist für seine gute Fahrbarkeit und Sportlichkeit. Der 64-Jährige berichtet von Fahrten durch Rom und Neapel. Gerade dort sei er immer sehr gern Auto gefahren.
Erst als Peter 45 Jahre alt wird, nimmt die Amaxophobie zu. Durch den dichten Stadtverkehr manövriert Peter sein Auto ohne Probleme. Fährt er hingegen auf eine Brücke zu, wird er nervös. Um sich abzulenken, sagt er dann ein Gedicht auf oder singt ein Lied. Wird der Druck zu groß, muss der Beifahrende auch mal ein plötzliches „halt jetzt mal die Klappe“ einstecken.
Die Angst wurde vor 20 Jahren zu Peters ständigem Begleiter im Auto. Irgendwann weitete sich die Angst von Brücken auf Autobahnen aus. Peter berichtet, wie die Autobahnen für ihn im Laufe der Jahre größer wurden und immer mehr Spuren hinzukamen. Er beobachtet nicht nur einen Anstieg der gefahrenen Geschwindigkeiten, sondern auch zunehmende Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr: „Die Ich-Gesellschaft und der wachsende Egoismus machen es mir schwerer“, erklärt Peter.
Im Alltag bedeutete das für ihn, dass er acht statt fünf Stunden für die Strecke von Berlin nach Düsseldorf einplanen musste. Wegen der vielen Pausen. „Wenn die Angst zu stark wurde, musste ich anhalten. Um Luft zu holen“, sagt er. Im Freundeskreis ist seine Amaxophobie kein Geheimnis. Einige finden sie „albern“.
Peter suchte sich Hilfe bei einem Psychologen. Der riet ihm, seine Angst in eine Puppe zu projizieren und diese auf den Rücksitz zu legen. Sie sollte ihn physisch von seiner Angst trennen, sodass Peter endlich „allein“ am Steuer sitzen kann – ohne Angst. Denn die liegt ja auf der Rückbank. Geholfen hat es ihm nicht. Das Ergebnis beschreibt Peter als: „teuer, lehrreich, aber nicht hilfreich“. Den Kampf gegen die Fahrangst hat Peter jüngst aufgegeben. Im März 2021 verkaufte er seinen Mazda MX-5. Auto möchte er nicht mehr fahren.
Wie wird Fahrangst behandelt?
Der Kampf gegen die Angst ist langwierig und anstrengend. Nicht alle können sich von ihr befreien, viele haben dagegen Erfolg mit einer Therapie. Simone Caillé teilt die Behandlung in zwei Teile auf. Im ersten findet eine intensive Gesprächsarbeit statt: „Das ist dann manchmal ein bisschen wie bei Sherlock Holmes“, sagt sie. Welche Ängste gab es in der Vergangenheit und in der Kindheit? Nicht selten versteckt sich dort die Ursache für die Fahrangst.
Ist das erste Auftreten der Angst datierbar, ermittelt sie zusammen mit ihren Klienten, was sich damals im Leben verändert hat: „Das sind oft Zusammenhänge, die den Klienten nicht bewusst sind.“ Dann werden gemeinsam Übungen für einen besseren Zugang zu den eigenen Fähigkeiten erarbeitet. Das führt dazu, dass sich die Klienten auf eine „gestärkte Art“ ihrer Angst nähern können, sagt Caillé. Es gehe darum, ein gutes Gefühl aufzubauen. Das könne auch eine Hypnose-Sitzung einschließen. „Wenn man an dem Punkt angekommen ist, an dem die Betroffenen selber sagen ´jetzt will ich das auch mal ausprobieren´, gehe ich mit ihnen ins Auto.“
Anschließend beginnt der Praxisteil. Wer kein Auto hat, dem stellt Caillé eines für die praktische Übung zur Verfügung. Beim Fahren nähern sich die Klienten mit ihr Stück für Stück dem an, was ihnen Angst bereitet. „Dann erarbeiten wir gemeinsam den Weg, der für diese Person individuell funktioniert.“ Und auch, wie die Person alleine weiter üben und weiter im Gespräch bleiben kann, um sich Unterstützung zu holen.
Susanne hat so eine Kombination aus Psychotherapie und Fahrschule geholfen. Besonders letztere, wegen der Konfrontation. Das ist ihre Waffe gegen die Angst und Susanne weiß, dass sie funktioniert. Sie weiß aber auch, dass diese Konfrontation regelmäßig stattfinden muss, sonst beginnt der Kreislauf wieder von vorn. „Ein, zwei Wochen lang jeden Tag Autobahnfahren würde helfen“, sagt sie
Glaubenssätze über Bord werfen
Ohne es zu merken, machen es sich viele Betroffene schwieriger als nötig, erklärt Caillé. Dazu rüttelt die Therapeutin auch an vermeintlich feststehenden Glaubenssätzen zum Autofahren. Etwa, dass Autofahren immer schnell sein müsse, oder dass man nicht zu viel Abstand halten dürfe, weil sonst Hinterherfahrende blockiert würden. Ein Problem sieht sie bei den Fahrschulen. Caillé weist daraufhin, dass dies natürlich nicht auf die Allgemeinheit übertragbar sei, doch innerhalb ihrer Arbeit stellt sie immer wieder fest, dass „kaum jemand gut und fertig ausgebildet aus der Fahrschule kommt.“ Oft meinen auch Eltern von Führerscheinanwärter*Innen, die besseren Fahrlehrer*Innen zu sein: Das „richtige“ Fahren lerne man sowieso erst nach der Fahrschule. Dem steht Caillé klar entgegen: „Die Sachen, die man dort nicht richtig lernt, sind häufig die Dinge, die später Probleme bereiten.“
*Name von der Redaktion geändert
Fazit:
So wie sich die Fahrangst in vielen Fällen langsam aufgebaut hat, lässt sie sich auch wieder abbauen – zunächst im Gespräch und anschließend mit praktischen Übungen hinter dem Steuer. Wichtig ist, dass Betroffene nach der Therapie weiter dabei bleiben und sich mit den angstauslösenden Situationen immer wieder konfrontieren.
Dennis | @MobilityTalk
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