In Hollands Fahrradstadt Houten ist das Auto nur Gast

Houten regelt den Verkehr anders als andere Städte. Ortsbesuch in der niederländischen Stadt, in der das Fahrrad immer Vorfahrt hat. Was nicht der einzige Unterschied zu Deutschland ist.

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Dennis Merla

Zu sehen ist die niederländische Stadt Houten
Houten ist eine fahrradfreundliche Gemeinde mit circa 50.000 Einwohnern in der niederländischen Provinz Utrecht [Bildquelle: Adobe Stock]

Die Zukunft der Mobilität braucht hier nur zwei Räder. Das zeigt in Houten schon der kleine Bahnhof. Und zwar mit einer Reihe von 250 Fahrradständern vor und mehreren tausend Fahrradständern im ersten Stock des Gebäudes. Das Stockwerk darüber gehört den Zügen. Zwei Gleise reichen für die Verbindung mit dem Rest des Landes. Thomas steigt aus dem Zug. Er zieht eine kleine orangefarbene Karte aus seinem Portemonnaie. Mit ihr hat er bereits die Zugfahrt bezahlt, doch jetzt hat sie noch einen weiteren Zweck.

Thomas ist 49 Jahre alt, vor 15 Jahren von Deutschland in die Niederlande gezogen und arbeitet als Projektmanager. Er schaut auf sein Smartphone und öffnet eine App des Verkehrsanbieters: 250 verfügbare Leih-Fahrräder zeigt sie an. Thomas weiß: „Zur Rushhour können die schnell weg sein“ und nimmt direkt die Treppe ins Untergeschoss. Unten angekommen, trennt ihn vom Reich der Zweiräder nur noch eine Schranke. Thomas hält die kleine Karte vor einen Sensor und sie schwingt auf.

Die 50.000-Einwohnerstadt Houten liegt in der Provinz Utrecht, nahe der gleichnamigen Stadt. Was Houten von anderen Städten unterscheidet, ist seine ganz auf den Fahrrad-Verkehr ausgelegte Infrastruktur. In den Medien wird Houten deshalb als „autofreie Modellstadt“ beschrieben, oder als die Gemeinde, in der „das Auto nur noch zu Gast ist.“ Letzteres – auf niederländisch natürlich – ist auch die Aufschrift zahlreicher Schilder im Stadtgebiet: „fietsstraat – auto te gast“.

Es gibt durchaus Autos

Die kleine Karte in Thomas‘ Hand, die Zugfahrten bezahlt und Schranken öffnet, ist die „OV-Chipkaart“. Das ist eine Art nationale Mobilitätskarte, mit der man im ganzen Land S-, U-, und Straßenbahn, aber auch Zug und Bus fahren kann. Heute braucht er sie zum Fahrradmieten, denn das kann die kleine Karte ebenfalls. Warum gibt es so etwas in Deutschland nicht?

Zur Ausleihe stehen blau-gelb lackierte Damenräder zu Verfügung. Thomas hofft auf eines der neueren Modelle, bei dem sich abends automatisch das Licht einschaltet. Er sagt, das sei wichtig, denn hier achte die Polizei auf so etwas. Doch Thomas hofft vergebens: Einige Minuten später schiebt er eines der älteren Räder aus der Bahnhofshalle. Die Miete kostet 3,50 Euro für 24 Stunden, abgerechnet wird sie über die Mobilitätskarte.

Wer in Houten unterwegs ist, dem wird schnell klar, dass in der „autofreien“ Stadt durchaus Autos unterwegs sind. In den Wohngebieten parkt vor fast jedem Haus eines, darunter relativ viele Elektroautos. In Houten ist das Autofahren nicht verboten.

Zu sehen ist ein Bahnhof in Houten
Das obere Stockwerk des Bahnhofs gehört den Zügen. Zwei Gleise verbinden die 50.000 Einwohner-Stadt unter anderem mit dem nahegelegten Utrecht [Bildquelle: André Botermans]

Nur: Auf kurzen Strecken lohnt sich das Autofahren nicht. Dafür sorgt eine spezielles Verkehrskonzept. Das funktioniert so: Eine Umgehungsstraße führt kreisförmig um die Stadt. Von ihr aus können Autofahrer in die einzelnen Stadtteile hineinfahren. Den Stadtteil von dort aus wechseln können sie nicht. Will der Fahrer in einen anderen Stadtteil gelangen, muss er stets zurück zur Umgehungsstraße fahren. Zahlreiche aus dem Boden ragende Poller und Sackgassen-Schilder erzwingen rigoros die Einhaltung dieses Verkehrskonzepts. Es ist also durchaus möglich, mit dem Auto in Houten unterwegs zu sein – es macht nur keinen Spaß und ist ineffizient. Es gibt keine Strecke innerhalb Houtens, auf der man mit dem Auto schneller ist als mit dem Fahrrad. Thomas beschreibt diese Art der Organisation als „Demotivationspolitik“.

Schmale, rot-asphaltierte Straßen ziehen sich durch das gesamte Stadtgebiet. Auf einer von ihnen radelt Thomas, als sich mit leise brummendem Motor ein Auto von hinten an ihn heranschleicht. Einige Meter weit fährt Thomas mitten auf der Straße vor dem Auto her, bis er sein Bike gemächlich ein Stück weit Richtung Straßenrand steuert. Er lässt das Fahrzeug passieren und bekommt dafür ein freundliches Lächeln zurück.

Eine Stadt mit Fahrrad-Botschafter

In anderen Städten wäre eine solche Begegnung mit pulsierender Halsschlagader, rotem Kopf und wüsten Beleidigungen einhergegangen. In Houten aber passt sich das Auto als Gast der Geschwindigkeit der Radfahrer an. Das ist kein Verhaltensvorschlag, sondern ein Gesetz. Im gesamten Stadtgebiet gilt Tempo 30. Schneller dürfen Autofahrer nur auf der Umgehungsstraße fahren. Dort sind Fahrrad- und Autoverkehr baulich voneinander getrennt. Gefährliche Unfälle beim Abbiegen werden so ausgeschlossen. Das System zeigt Erfolg: Der Verkehr in Houten gilt als besonders sicher. Seit rund 50 Jahren ereignete sich kein einziger tödlicher Unfall in der Stadt.

Auch deshalb gilt Houten in den Niederlanden als beliebter Wohnort. Als „kinderfreundlich, sicher und ruhig“ beschreiben die Einwohner Houten, sie sprechen gerne über ihre besondere kleine Stadt und ihr weltweit gerühmtes Verkehrskonzept. Interesse daran sind sie gewohnt. Deshalb gibt es in Houten sogar einen internationalen Fahrrad-Botschafter. André Botermans empfängt jedes Jahr Delegationen, Politiker, Verwaltungen, Studierende, Stadtplaner, Fahrradverbände und Journalisten aus aller Welt. Seinen Auftrag formuliert er so: „Wir wollen unser Wissen und unsere Erfahrungen teilen und damit anderen Städten helfen, ihre Verkehrssicherheit und ihre Lebensqualität zu verbessern.”

Houtens Verkehrssystem klingt futuristisch, tatsächlich ist es bereits ein halbes Jahrhundert alt. In den 1970er Jahren – Houten war noch ein kleines Dorf – entwarf Stadtplaner Robert Derks das Konzept. Er plante zunächst das soziale Leben, die Grünflächen, Spielplätze und den Radverkehr ein. Was an Raum übrig blieb, bekam das Auto.

Als Thomas sein Rad am späten Nachmittag zurück zum Bahnhof bringt und in den nächsten Zug Richtung Utrecht steigt, beginnt es zu regnen. Ein älteres Ehepaar läuft mit gemächlichem Schritt, tief geduckt unter einem Regenschirm über einen regenbogenfarbigen Zebrastreifen. Der erwartete Topf voll Gold am Ende des Regenbogens entpuppt sich als Bahnhof.

Zu sehen ist ein Fahrradweg in Houten
Autofahrer fahren Umwege, Radfahrer genießen die Vorfahrt: Die Innenstadt von Houten ist komplett autofrei und auf die Bedürfnisse von Radfahrern ausgelegt [Bildquelle: André Botermans]

Alternative: Das Houten-Taxi

Unter dessen Überdachung versammeln sich nach und nach immer mehr Radfahrer. Zur Grundausstattung der Fahrrad-Mobilität in Houten zählen die Wetter-App und das Regencape. Die Eiligen kramen in ihren Rucksäcken und Taschen nach genau diesen Capes, streifen sie über und fahren weiter. Die nicht-Eiligen verbringen die Wartezeit mit konstantem Blick aufs Smartphone.

Als sich der Regen verzieht und die Radfahrer weg sind, steht das Ehepaar noch vor dem Bahnhof. Sie scheinen auf etwas zu warten. Nach einer Weile kündigt sich das Etwas mit leisem Summen an – ein kleines, grünes Golfcart bleibt stehen. Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Fahrer steigen die beiden ein, und das elektrische Gefährt surrt davon. Es ist eine Art Taxi, schmal genug, um überall dort zu fahren, wo die Poller den Autos die Durchfahrt verwehren. Und elektrisch genug, um als innerstädtisches Verkehrsmittel neben dem Rad akzeptiert zu werden. Eine feste Strecke fährt das Golfcart nicht ab. Das Houten-Taxi wird per Anruf oder App gebucht und kutschiert die Fahrgäste zum Festpreis. Eine andere motorisierte Alternative gibt es nicht.

Ob sich das bald ändern muss? Die Provinz Utrecht ist beliebt und wächst seit vielen Jahren. Viele Niederländer drängen auch in die kleine Modellstadt. Sie wächst mittlerweile über die Umgehungsstraße hinaus. Das bemerkt auch André Botermans: “Das Wachstum von Houten ist eine enorme Herausforderung”. Stadtplaner Derks hatte sich vor Jahrzehnten vorausschauend mit diesem Problem beschäftigt und schlug eine Erweiterung des Stadtkerns gen Osten vor. Die Verantwortlichen entschieden sich trotzdem für Verdichtung der Straßenzüge und für vertikales Wachstum, also für mehr Stockwerke. Doch Botermans bleibt optimistisch: „Die Gemeinde kämpft mit der Planentwicklung, aus politischer Sicht ist hierzu das letzte Wort noch nicht gesprochen”.

Man lebt gesünder

Die längste Strecke innerhalb Houtens beträgt derzeit rund vier Kilometer. Wächst die Stadt, wachsen auf die Entfernungen. Ein ÖPNV-System, wie man es aus anderen Städten kennt, ist hier aber schwer integrierbar. Und zwar nicht nur, weil die schmalen, sich schlängelnden Straßen und die dichte Besiedlung ohnehin kaum Platz dafür lassen. Auch, weil ein Bus, der sich durch die engen Straßen drückt, bei den Houtenern sowieso auf Ablehnung träfe.

Und doch: Wer in Houten lebt und sich bewegt, ist deutlich weniger Stress ausgesetzt. Die Luftqualität ist besser, die konstante Lärmkulisse des Autoverkehrs fällt weg – insgesamt lebt es sich gesünder. Kinder lernen früh, selbstständig mobil zu sein, während ältere Einwohner die Bewegung länger mobil hält. Das Konzept führt insgesamt zu einer freundlicheren Verkehrskultur auf der Straße. Das macht das Radfahren sicherer und Houten zu einem lebenswerten Ort.

Zu sehen ist Dennis Merla

Fazit:

Wenn man aus Deutschland kommend Houten und die Niederlande erlebt, erscheint schon das Konzept eines einzigen Tickets für alle Verkehrsmittel wie Science Fiction. Es beeindruckt, wie anders unser Nachbarland in den vergangenen 50 Jahren seine verkehrspolitischen Prioritäten gesetzt hat. Houten zeigt: Das funktioniert und sollte uns Mut machen.

Dennis Merla | @MobilityTalk

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