Unterwegs im autonomen BVG-Bus: Kindertraum autonomes Fahren

Zunächst bis Sommer 2022 testen die Berliner Verkehrsbetriebe autonome Kleinbusse im regulären Linienbetrieb. Wir sind mitgefahren und haben uns angeschaut, was die Technik kann und was nicht.

Dennis Merla
Dennis Merla
Ein autonomer Kleinbus steht an einer Haltestelle in Berlin
Innerhalb eines Pilotprojekts dreht in Berlin seit einiger Zeit ein autonomer Bus seine Runden. Auf einer Tour war mobility.talk dabei [Bildquelle: mobility.talk]

Frederick* ist 7 Jahre alt und besucht die zweite Klasse einer Grundschule in Pankow. „Das ist ein autonomer Bus“, sagt er, als er seiner Schul-Betreuerin einen kleinen Zettel mit einer Zeichnung in die Hand drückt. Während sie glaubt das Bildnis einer fahrenden Dusche als autonomes Fahrzeug verkauft zu bekommen, ist sich der kleine Frederick absolut sicher: Das ist ein autonomer Bus! Und der junge Mann hat recht. Denn das, was Frederick vor einigen Wochen am Tegeler See in Berlin gesehen hat, ist tatsächlich ein autonomes Shuttle-Konzept in der Erprobungsphase. Nach coronabedingter Pause dreht der „Easymile EZ10“ seit Ende Juni 2021 wieder seine Runden. Seine Strecke ist die sogenannte „See-Meile“, entlang der Uferpromenade des Tegeler Sees in Berlin.

Das Projekt dient nicht nur zum Testen der autonomen Technik im öffentlichen Straßenverkehr – es geht auch um Akzeptanz-Forschung bei den potenziellen Nutzern dieser Technologie. Zu den Partnern des Projekts zählen unter anderem die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz und die Technische Universität Berlin. Das Verkehrsministerium fördert das Projekt mit 9,8 Millionen Euro.

Sicherheitsfahrer weiterhin an Bord

Langsam rollt der kleine Bus an die Starthaltestelle heran und kommt zum Stehen. Die großen Türen schwingen auf und zwei Fahrgäste steigen ein. Auf einem der sechs verfügbaren Sitzplätze sitzt bereits ein Mitarbeiter der BVG – gänzlich allein lässt man den kleinen Bus noch nicht fahren. Warum das so ist, erschließt sich allen Beteiligten direkt nach der Abfahrt.

Denn kaum angefahren, stoppt das Fahrzeug ruckartig. Gleichzeitig ertönt eine Klingel im Innenraum. Grund für den Stopp ist ein am Straßenrand parkendes Auto. Es steht nicht komplett in seiner Parklücke, sondern ragt etwa 20 Zentimeter über. Das haben die Sensoren erkannt und entschieden: der Abstand ist zu klein. Und nun? Warten bis der Besitzer sein Auto korrekt einparkt? Der Sicherheitsfahrer steht auf und wendet sich einem in der Fahrzeugwand eingelassenem Touchscreen zu. Sensortechnik versus menschliches Einschätzungsvermögen: per Knopfdruck hebt er die Entscheidung des Computer-Systems auf, und der Bus fährt trotz zu geringem Abstand am parkenden Hindernis vorbei. Diesen Knopf wird der Sicherheitsfahrer auf der 1,2 Kilometer langen Teststrecke noch sehr häufig drücken müssen.

Für den autonomen Fahrbetrieb ist der Easymile EZ10 mit mehreren Kameras und Sensoren ausgestattet. Die Kameras erkennen unter anderem Verkehrszeichen, während sogenannte Lidar-Sensoren die Umgebung abtasten und Hindernisse aufspüren. Die Lidar-Technik ist eine mit der Radar-Technik verwandte Methode zur Abstands- und Geschwindigkeitsmessung.

In Berlin fahren auf den Linien 328Aund 328B autonome Busse die Tegeler Seemeile an [Bildquelle: mobility.talk]

Vollbremsung aus voller Fahrt

Nun nimmt der Bus Fahrt auf. Die für den Testbetrieb erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 13 km/h ist nach kurzer Zeit erreicht. An jedem Sitzplatz befinden sich Anschnallgurte, keiner der Fahrgäste beachtet sie. Das fällt dem Sicherheitsfahrer auf. In typischem Berliner Dialekt stimmt er die Fahrgäste um: „Hier haben heute schon mehrere Leute den Boden gewischt.“ Kaum haben sich die Fahrgäste angeschnallt, vollführt das Fahrzeug die erste Vollbremsung. Richtige Entscheidung, das mit dem Sicherheitsgurt. Selbst bei nur 13 km/h wirken überraschend starke Fliehkräfte.

Der Grund für die Vollbremsung ist ein einparkender Kombi. Sensortechnik versus menschliche Nervenstärke: Mit jedem Zentimeter, den sich der Kombi weiter in seine Parklücke schiebt, fährt der kleine Bus ein Stück nach vorn, immer und immer näher an den Kombi heran. Dass das auf den Fahrer des Autos bedrängend wirken könnte, interessiert die Sensortechnik des Kleinbusses nicht. Wird ein Zentimeter Strecke frei, fährt er einen Zentimeter nach vorn. Nervenstärke brauchen auch die Passagiere im Bus. Denn jeder Stopp nach jedem weiteren Zentimeter beschert ihnen ein Klingeln und Ruckeln, Klingeln und Ruckeln, Klingeln und…

Der autonome Kleinbus trifft auf positive Resonanz

An der nächsten Haltestelle wollen Fahrgäste zusteigen. Der Sicherheitsfahrer winkt sie ab, „schon voll“. Dieser Satz fällt an allen vier folgenden Haltestellen. Coronabedingt darf die Kapazität nicht ausgeschöpft werden. Das Angebot treffe bei den Bürgern jedoch auf positive Resonanz: „Manchmal schlagen die sich um ‘nen Platz hier drin“, sagt der Sicherheitsfahrer.

An der nächsten Station – der BVG-Mitarbeiter wimmelt gerade eine Mutter mit Kind ab – steigt ein Mitarbeiter der Technischen Universität Berlin zu. Die TU Berlin koordiniert den Testbetrieb des Fahrzeugs. Auch er berichtet von viel positiver Resonanz und, dass speziell ältere Menschen das Angebot sehr gerne nutzen. Bevor der autonome Kleinbus erneut seine Starthaltestelle erreicht, fragt er die Fahrgäste, ob sie mit ihm einen Fragebogen zur Fahrt durchgehen möchten. Es geht dabei viel um Akzeptanz und Sicherheitsempfinden. Es war die letzte Fahrt dieses Tages.

BVG autonomer Bus
Die hochautomatisierten Kleinbusse will die BVG künftig flächendeckend einsetzen. Sie sollen etwa Wohnquartiere im Berliner Randgebiet besser an den bestehenden ÖPNV anbinden [Bildquelle: BVG]

Bleibt autonomes Fahren ein Kindertraum?

Ob alt oder jung – unter den Passagieren ist die Begeisterung über die kleinen, gelben Busse groß. Unsicherheiten bezüglich der Technik hat keiner der Fahrgäste. Das liegt wohl auch an dem Menschen mit BVG-Jacke, der sich im Zweifelsfall um alles kümmert. Mehr Schwierigkeiten mit der Technik haben die Autofahrenden. Häufig sind sie sich nicht sicher, ob sie beispielsweise überholen dürfen. Was passiert, wenn der Bus genau in dem Moment plötzlich ausschert? Aus dem unberechenbaren „menschlichen Faktor“ wird der unberechenbare „technische Faktor“. Autofahrende kommunizieren permanent miteinander über Augenkontakt, in der Art wie man an der Ampel anfährt, sogar darüber, welches Auto jemand fährt.

Wir wissen, wie der Menschen funktioniert und trauen seinen Entscheidungen deshalb. Mit dem Computer-Programm fehlen diese Erfahrungswerte. Das Auto weiß nicht, ob ein erkanntes Hindernis ein einparkendes Auto, ein Stein oder ein verdreckter Sensor ist. Sensor schlägt an – Auto bleibt stehen. Das kann der autonome Kleinbus. Zur Fairness gehört natürlich, dass der Stadtverkehr Berlins keine einfache Aufgabe für solche Systeme darstellt. Dass autonome Kleinbusse allerdings in naher Zukunft weitere Strecken mit Passagieren zurücklegen, wie es Mobileye angekündigt hat, bleibt zu beweisen.  

Trotzdem können autonome Fahrzeuge viele Mobilitätsprobleme lösen. Das zeigt schon der Versuch in Berlin: In einem begrenzten Gebiet können die Fahrzeuge die Feinverteilung übernehmen und damit auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die nicht nah an einer Haltestelle leben,  einen Zugang zum Nahverkehr ermöglichen.  Auf dem Land können autonome Busse eine ÖPNV-Taktung ermöglichen, die mit einem Menschen hinter dem Steuerviel viel zu personalintensiv wäre. Autonome Fahrzeuge sollen außerdem irgendwann einen effizienteren Verkehrsfluss erlauben. Die Parkraumsuche könnte ebenfalls der Vergangenheit angehören. Das Potenzial ist riesig. Doch der Weg dahin kennt nur wenige Abkürzungen. Zumindest ist er etwas länger, als es Autohersteller und Software-Riesen noch vor wenigen Jahren geglaubt haben.

 

* Name von der Redaktion geändert

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