55 Millionen Deutsche haben keinen Zugang zu gutem ÖPNV
Nicht mal ein Bus pro Stunde: Eine Studie offenbart ein eklatantes Stadt/Land-Gefälle beim öffentlichen Verkehr. Es gibt Alternativen. Doch die sind teuer und aufwändig.
Die Zahl klingt im ersten Moment beeindruckend: 230.000 Haltestellen für Bus und Bahn gibt es in Deutschland. Mehr als 93 Prozent der Bundesbürger wohnen innerhalb eines Radius von 400 Metern Entfernung um eine ÖPNV-Haltestelle. Doch was sich anhört wie ein leistungsfähiges, kundenfreundliches Netz im öffentlichen Personen-Nahverkehr, ist in den Augen von Experten ein Grund, Alarm zu schlagen.
„Ein dichtes Haltestellennetz sagt nichts über die Qualität. Die Infrastruktur allein reicht nicht aus. Die Taktung des öffentlichen Nahverkehrs ist in vielen Regionen zu gering und wenig attraktiv.“, sagt Michael Barillère-Scholz im Gespräch mit der „Berliner Morgenpost“. Barrillère-Scholz ist Vorstandschef von Ioki. Das Tochter-Unternehmen der Deutschen Bahn hat eine umfassende Mobilitätsstudie in Auftrag gegeben, die ernüchternde Ergebnisse gebracht hat.
Ausreichendes Angebot für 90 Prozent der Städter
Sie lassen sich so zusammenfassen: Wer im ländlichen Raum wohnt, sollte sich nicht auf den ÖPNV verlassen. 55 Millionen Menschen in Deutschland haben demnach vor Ort keinen Zugang zu einem sehr guten öffentlichen Verkehrs-Angebot. Das gilt nur für die 27 Millionen Bürger*innen, die in Großstädten und Metropolregionen wohnen.
Per Definition liegt ein ausreichendes ÖPNV-Angebot dann vor, wenn eine Haltestelle im Zeitraum zwischen 6 Uhr und 21 Uhr stündlich angefahren wird. Das trifft der Studie zufolge aktuell nur auf zwei von drei Menschen zu, die auf dem Land wohnen. In der Stadt ist die Quote mit 90 Prozent deutlich höher.
Kaum Mobilitätsdienste auf dem Land
Barillère-Scholz, der mit Ioki daran arbeitet, seinen Kunden einen möglichst idealen Verkehrsmix anbieten zu können, fordert mehr Flexibilität: „Durch Fahrzeuge, die auf Abruf per App vor der Tür stehen und zu nächsten Bus- oder S-Bahn-Stadion fahren, könnte rund 25 Millionen Menschen ein Angebot im ÖPNV gemacht werden.“ Den Bedarf an diesen sogenannten On-Demand-Shuttles beziffert er mit 380.000 Einheiten, die die Menschen von Haltestellen nach Hause bringen und umgekehrt: „Die Dienste sollten binnen 15 Minuten maximal 200 Meter von der eigenen Haustür verfügbar sein und das Ziel mit der gesamten ÖPNV-Strecke idealerweise schneller als mit dem Auto erreichbar sein. Dann steigen die Menschen auch um.“
In diesen Mobilitätsmix bezieht Ioki auch Angebot wie Car-Sharing, E-Scooter oder Leihfahrräder mit ein. Auch hier zeigt die Studie ein deutliches Gefälle zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Im Detail lässt sich sogar eine klare Zentrierung auf die Innenstadtbereiche erkennen. Wer am Stadtrand von Metropolen wie Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt lebt, hat deutlich weniger Zugang zu Leihrädern oder E-Scootern als Einwohner von Innenstadtbezirken. In Städten mit weniger als 20.000 Einwohnern fällt diese Quote bereits ins Bodenlose. Nur fünf Prozent dieser kleineren Kommunen bieten überhaupt eine dieser Individual-Mobilitätsdienstleistungen an.
Bahn baut Angebot aus
Die Studienergebnisse verdeutlichen einmal mehr den großen Handlungsbedarf im Bereich des öffentlichen Verkehrs. Mobilitätsforscher Andreas Knie bekannte im Interview mit „mobility.talk.“, Deutschland lebe in dieser Hinsicht „in der Steinzeit“. Die Kosten für einen Ausbau der jeweiligen Angebote bezifferte das Beratungsunternehmen PwC kürzlich mit rund 50 Milliarden Euro. Unklar ist, wer diese Kosten übernehmen soll.
Die Kommunen, die für die Mobilitätsangebote vor Ort maßgeblich verantwortlich sind, verlangen bereits seit Jahren deutlich mehr Geld vom Staat. Passiert ist bislang (zu) wenig. Immerhin kündigte die Deutsche Bahn unlängst an, mit ihrem Dezember-Fahrplan mehr Verbindungen und längere Züge anbieten zu wollen. Allerdings steigen mit dem Angebot auch die Fahrtkosten für die Passagiere.
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