Level 3 autonomes Fahren: Die Verantwortung abgeben
Level 3 autonomes Fahren hat auf sich warten lassen. Seit Mai 2022 ist das erste System bei Mercedes bestellbar. Wie das geht und wie es weiter geht, steht hier.
2022 ist das Jahr, in dem wir die Hände zum ersten Mal in den Schoß legen durften. Mercedes hatte im Dezember 2021 als erster Hersteller die Freigabe für ein sogenanntes Level-3-System nach UN-R157 bekommen („UN Regulation No. 157“). Damit dürfen Autofahrende ihre Aufmerksamkeit vom Straßenverkehr abwenden. E-Mails checken, Filme gucken, Online-Shopping – das ist nun möglich, während das Auto autonom über die Autobahn rollt. Jedenfalls unter bestimmten Bedingungen. Das Entscheidende dabei: Geht etwas schief, haftet der Autohersteller.
Es hat lange gedauert, bis diese Funktionalität endlich den Weg auf die Straße gefunden hat. Dabei hatten einige Hersteller schon für Anfang der 2020er-Jahre deutlich fortgeschrittenere System in Aussicht gestellt. Audi wollte bereits 2018 ein Level-3-System bringen, Tesla-Chef Elon Musk kündigte immer wieder vollautonome Systeme an. Die Autos machten jedoch eher mit Unfällen Schlagzeilen, bei denen zum Teil die teilautomatisierten Fahrfunktionen versagte. Die New York Times berichtete kürzlich, dass Musk seine „Vision“ vom autonomen Fahren auf Kosten der Sicherheit und gegen den ausdrücklichen Rat seiner Entwickler durchdrücken wollte.
Aktuell gibt es nur zwei Autobauer, die Fahrzeuge mit Level-3-Funktionen auf der Straße hat. Honda hat 2021 damit begonnen, eine kleine Flotte Honda Legend an ausgewählte Kund*innen zu verleasen. 100 Exemplare dürfen in Teilen Japans mit nach japanischem Recht freigegebenem Level-3-Staupilot fahren. Seit Mai 2022 können Mercedes-S-Klasse- und EQS-Kunden auch in Deutschland ein solches Level-3-System bestellen. Es kostet fast 6.000 Euro für die S-Klasse und wegen zusätzlicher notwendiger Optionen 8.800 Euro beim EQS.
Das bedeutet Level 3 Autonomes Fahren
Es gibt sechs Level des autonomen Fahrens. bei Level 1 und Level 2 behalten Autofahrende immer die Verantwortung. Level 3 ist das niedrigste, bei dem Autofahrende sich vom Verkehrsgeschehen abwenden dürfen. Allerdings regelt UN-R157 genau, unter welchen Bedingungen das passieren darf. Folgende Voraussetzungen müssen aktuell erfüllt sein:
- Physische Trennung der Richtungsfahrbahnen
- Verbot für Fußgänger und Fahrradfahrer
- Geschwindigkeit nicht höher als 60 km/h
- Fahrer*in angeschnallt auf dem Fahrersitz
- Fahrer*in in der Lage, kurzfristig die Kontrolle zu übernehmen
So der Stand jetzt (06/2022), doch UN-R157 wurde bereits erweitert. Nach dem Willen der Regulatoren sollen Level-3-Systeme bereits ab 1. Januar 2023 bei bis zu 130 km/h erlaubt sein, außerdem sollen sie automatisiert die Spur wechseln dürfen. Aktuell ist das nicht möglich.
Deutschland hat die Verordnung als erstes Land bereits 2017 in nationales Recht überführt und in den Paragrafen 1a bis 1l des Straßenverkehrsgesetz geregelt. Erst Anfang 2021 trat jedoch die entsprechende technische Zulassungsvorschrift in Kraft. Das Level-3-System muss erkennen, wann Fahrzeugführende nicht in der Lage sind, kurzfristig wieder die Kontrolle zu übernehmen und sie mit genug Vorlauf warnen, falls das notwendig ist.
Während der Fahrt schlafen ist nicht erlaubt, Zeitunglesen ist zumindest dann tabu, wenn die Zeitung Kopf und Gesicht verdeckt. Dann nämlich kann das System nicht erkennen, ob Fahrzeugführende nicht nur anwesend, sondern auch „verfügbar“ sind.
So funktioniert Level 3 bei Mercedes
Drive Pilot nennt Mercedes das System zum autonomen Fahren nach Level 3. Die Aktivierung erfolgt über Tasten am Lenkrad und eine zusätzliche Bestätigung. Ist der Drive Pilot aktiviert, hält das Auto die Spur und den Abstand zum Vordermann – genau wie bei bisherigen Level-2-Systemen. Die maximal zulässige Höchstgeschwindigkeit wird in der Theorie ebenfalls erkannt und eingehalten. In der Praxis spielt das jedoch eine untergeordnete Rolle. Schließlich darf das System ohnehin nur bis 60 km/h aktiv sein.
Wenn notwendig, beteiligt sich das Auto bei der Bildung einer Rettungsgasse. Unerwartete Situationen, etwa plötzlich einscherende Autos, werden durch Ausweich- oder Bremsmanöver innerhalb der eigenen Spur bewältigt. Reagieren Autofahrende trotz mehrfacher, eskalierender Übernahmeaufforderung nicht, wird das Auto kontrolliert bis zum Stillstand abgebremst. Zugleich werden Fenster und Türen entriegelt und ein Notruf abgesetzt sowie die Warnblinkanlage eingeschaltet.
Limitiert ist das System vor allem durch schlechtes Wetter. Schon bei Regen lässt sich der Drive Pilot nicht aktivieren, da die Sensoren durch Niederschlag gestört werden könnten.
Das sind die technischen Voraussetzungen
Eine Nachrüstung des Systems ist nicht möglich, da zusätzliche Sensoren erforderlich sind. Zu erkennen sind Level-3-S-Klassen an einem kleinen Buckel über dem Heckfenster. Mercedes verbaut einen LiDAR-Sensor („light detection and ranging“). Er scannt die Umgebung fortwährend, indem er (ungefährliche und unsichtbare) Laserstrahlen aussendet. Die Reflektionen werden aufgefangen und in ein virtuelles dreidimensionales Abbild der Umgebung übersetzt. Mercedes sieht LiDAR-Technik als zentrales Element, ohne das autonomes Fahren nicht umsetzbar sei, wie Entwicklungschef Markus Schäfer bei der Vorstellung des Systems sagt. Zusätzlich erhält das System Informationen etwa über die Straßengeometrie, Streckeneigenschaften, Verkehrszeichen sowie Unfälle oder Baustellen von einer HD-Karte. Die Daten stammen vom Partner here und werden regelmäßig aktualisert.
Stereokameras überwachen die Straße vor und hinter dem Auto. Dazu gibt es eine akustische Überwachung, damit Einsatzfahrzeuge von Polizei oder Feuerwehr auch ohne Sichtkontakt erkannt werden. Ein Nässesensor im Radkasten checkt die Straßenverhältnisse. Ebenfalls unerlässlich: die Innenraumüberwachung. Kameras behalten Fahrzeugführende im Blick und schlagen Alarm, falls sie nicht mehr übernahmebereit zu sein scheinen. Dafür werden die Augen überwacht sowie Kopf- und Körperbewegungen. Die Hardware für sämtliche Sensoren wurde laut Schäfer gemeinsam mit den Lieferanten entwickelt, die Software komplett in-house bei Mercedes.
Damit das Fahrzeug im Notfall manövrierbar bleibt und die Kontrolle sicher übergeben kann, wurden Lenk- und Bremssystem redundant ausgelegt. Auch das Bordnetz ist zweifach vorhanden.
So geht es weiter mit dem Autonomen Fahren nach Level 3
Weitere zertifizierte Level 3 Systeme gibt es noch nicht. Audi hatte zwar schon beim Debut des aktuellen A8 im Jahr 2017 Level-3-Funktionalität angekündigt, doch da fehlten noch die Grundlagen für die technische Zertifizierung. Im Frühjahr 2020 gab Audi bekannt, keine Funktionen für Level 3 autonomes Fahren mehr in der aktuellen Generation des A8 zu bringen.
Nächster Hersteller mit einem solchen System könnte daher BMW werden. Entwicklungschef Frank Weber kündigte bereits Anfang November 2021 Forbes gegenüber an, dass der damals kommende BMW 7er Level-3-Funktionalität mitbringen wird. Noch beherrscht er das allerdings nicht. BMW stellte bei der Vorstellung des 7ers und des i7 lediglich die „mittelfristige Implementierung von automatisierten Fahrfunktionen auf Level 3“ in Aussicht. Die Sensoren dafür seien an Bord, heißt es bei BMW.
Höhere Geschwindigkeiten und Spurwechsel kommen
Andere Hersteller halten sich bedeckt. Das Problem: Da bislang nur Deutschland UN-R157 in nationales Recht gegossen hat, bleibt der Markt vorerst begrenzt. Die Zertifizierung muss mit den nationalen Gesetzgebern abgestimmt werden. In Europa hat das bislang kein anderes Land auf den Weg gebracht. In den USA soll es in naher Zukunft eine Regelung geben. In China bietet allein Shenzhen bislang die Möglichkeit der Zertifizierung, so Mercedes-Entwicklungschef Markus Schäfer. In Japan fährt eine auf 100 Exemplare limitierte Leasing-Flotte von Honda Legend mit Level-3-Funktionen.
Die Technik „skaliert“ folglich noch nicht. Erst, wenn die Sensortechnik in großen Stückzahlen in Autos eingebaut werden kann, sinken die Preise. Dafür braucht es größere Märkte. Dennoch glaubt man bei Mercedes an das Extra, mag aber keine Prognosen zu Einbauraten abgeben. Die Kaufbereitschaft für Technik-Extras sei groß, sagt Schäfer. So entschieden sich offenbar deutlich mehr Menschen für den Hyperscreen im Mercedes EQS als erwartet.
Unterdessen will Daimler das System nach und nach erweitern, um den Nutzen zu vergrößern. Laut Schäfer spricht technisch nichts dagegen, sich in höhere Geschwindigkeiten zu begeben, wie es UN-R157 nun vorsieht, Spurwechsel sollen im Rahmen von Level 3 ebenfalls möglich sein. Ob Mercedes beides 2023 auf den Weg bringen kann, wenn die überarbeiteten Vorschriften gelten, bleibt abzuwarten. Gegen Mitte des Jahrzehnts erwartet man bei Daimler ein größeres Momentum fürs automatisierte Fahren.
Fazit:
Der Anfang zum autonomen Fahren ist gemacht. Der Nutzen bleibt jedoch noch gering. Nur im Stau und bei stockendem Verkehr dürfen Autofahrende die Hände in den Schoß legen, bei „Stauwetter“ wie Regen und Schnee funktioniert das System eher nicht. Und: Zunächst kommt es nur in teuren Luxusautos zum Einsatz. Trotzdem: Die Level 3 Zertifizierung nach UN-R157 ist ein Meilenstein. Weitere Hersteller werden bald mit eigenen Modellen folgen.
Heiko | @MobilityTalk
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