Hilfe, es drohen Fahrgäste!
Das 9-Euro-Ticket kann zum echten Aufbruch für den öffentlichen Verkehr werden. Doch leider regieren alte Reflexe: Die Politik traut sich was, Bedenkentragende schlagen zurück. Ein Kommentar.
Wir wurden alle kalt erwischt. Dass der Staat in Krisenzeiten den Geldhahn aufdreht, kannten wir ja von Corona. Nun zwingt ein Angriffskrieg in Europa einen Christian Lindner zum Schuldenmachen und einen Robert Habeck zum Großeinkauf fossiler Brennstoffe. Zur Abfederung der indirekten Folgen für Wirtschaft und Bürger*innen hatten wir Steuersenkungen auf Kraftstoffe, Strom und Gas erwartet. Vielleicht einen Arbeitskreis Frittierfett. Und Absichtserklärungen zum schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien.
Mit einem 9-Euro-Ticket hat keiner gerechnet. Nicht die Verkehrsminister*innen der Länder, nicht die Verkehrsverbünde und schon gar nicht die Mobilitätsexpert*innen. Die deutsche Verkehrspolitik arbeitet schließlich so langsam, wie unsere Autobahnen schnell sind. Neue U-Bahn? Macht 25 Jahre. Smarte Ampelschaltung? Erstmal 150 Fraunhofer-Projekte. Modernes Nahverkehrs-Ticketing nach Vorbild der Niederlande? 10 Jahre Feldversuch auf drei Linien. Und nun das: Für drei Monate wird der ÖPNV so billig wie noch nie. Überall, für alle. Das ist so disruptiv und innovativ, als würde man morgens einfach mal aufs Rad steigen, nach 15 Pendeljahren im Stau auf der A40. Verrückt. Und ein bisschen cool.
Ebenfalls schwer zu glauben: Schon am 1. Juni soll es losgehen. Dann können wir für 9 Euro im Monat bundesweit den Nah- und Regionalverkehr nutzen. Nur: Umsetzen müssen es Landesverkehrsministerien und Verkehrsverbünde. Es ist ihr Zeitplan, die Kosten von rund 2,5 Mrd. Euro haben sie berechnet. Richtig begeistert wirken sie trotzdem nicht. Nicht nachhaltig, Schnellschuss, überhastet, zu teuer, hört man. Entscheidungsträger äußern das nicht öffentlich, Fahrgastverbände und Bahngewerkschaften sind weniger zurückhaltend.
„Durch die Auswirkungen der Pandemie ist die Nachfrage aktuell um 20 Prozent niedriger als im Normalfall. Das heißt, wir haben grundsätzlich genügend Platz“
Strategiepapier der Berliner Verkehrsbetriebe
Neu-Delhi am Tegernsee
Der Effekt werde verpuffen, sagt Gerd Landsberg Städte- und Gemeindebund. Vor allem im ländlichen Raum gebe es gar nicht genug Nahverkehr. Der Fahrgastverband Pro Bahn spricht von einem „populistischen Schnellschuss“ und hätte für das Geld lieber mehr Angebot gesehen. Sprich, mehr Busse und Bahnen gekauft.
Ralf Damde, Vizevorsitzender des Gesamtbetriebsrats DB Regio, stellt sogar Horrorszenarien auf: Neu-Delhi am Tegernsee und am Strand von Travemünde. Er fordert gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland „zusätzliche Sicherheitskräfte, um überfüllte Züge und Bahnsteige bei Bedarf räumen zu können. Sonst könnte ein Chaos ausbrechen.“ Hilfe, es drohen Fahrgäste! Ganze Abiturjahrgänge fluten unsere Züge und marodieren mit achtmal Umsteigen an die Nordsee, statt dem von der Politik erhofften sittsamen Pendelpublikum droht deutschlandweite Klassenfahrt.
Es war doch alles gut?
Immerhin die Berliner Verkehrsbetriebe besinnen sich nach dem ersten Schreck (BVG-Chefin: „Wir verstehen die Ratio nicht“) auf eine andere Realität: „Durch die Auswirkungen der Pandemie ist die Nachfrage aktuell um 20 Prozent niedriger als im Normalfall. Das heißt, wir haben grundsätzlich genügend Platz“, heißt es dort.
Machen wir eine weitere Realität auf: Die Verkehrsunternehmen glauben, dass sie eigentlich alles richtig machen. Es fehlen nur mehr Steuergelder und höhere Ticketpreise, um noch mehr Busse im 10-Minuten-Takt durch den Stau oder im Sechs-Stunden-Takt leer über die Dörfer zu schicken. Daran, dass das Auto selbst in Hamburg oder Berlin doppelt so schnell ist, muss man nichts ändern. Bauen wir einfach alle 30 Jahre eine neue U-Bahn. Die Preise sind nicht schuld, dass viele lieber Auto fahren. Starre Tarife, die selbst Überzeugungsfahrgäste auf unbekannten Strecken überfordern, auch nicht. Sondern der Takt, das Netz, die Qualität, zu wenig Apps.
Das Schöne ist: am 30. August werden wir wissen, ob das stimmt. Denn das ist das eigentlich Disruptive an der Ampel-Idee: Sie ist ein großangelegter Menschenversuch, ein Verkehrsexperiment. Es kann uns alle Antworten liefern, die wir brauchen, falls wir eine echte Verkehrswende wollen. Danach stützen sich Planer*innen nicht mehr auf Umfragen und Annahmen, sondern auf Erfahrungen. Wenn teure Tickets und komplizierte Tarife niemanden vom ÖPNV fernhalten, wie Verkehrsverbünde glauben, dann führt ein einfaches, günstiges Ticket kaum zu Überlastungen, oder?
Funktioniert Dacia-ÖPNV?
Das kennen wir übrigens aus der Autoindustrie: Dort sind gestiegene Preise bei neuen Modellen auch kein Problem. Dafür gibt es schließlich mehr Qualität, Technik und Design. Komisch, dass Dacia mit der entgegengesetzten Prognose dennoch Geld verdient. Andersherum gilt das Gleiche: Wenn das Netz wegen der irren 9-Euro-Idee hier und da ächzt oder zusammenbricht, weil ein Dacia-ÖPNV doch funktioniert, dann wissen wir auch das. Und müssen danach genau an diesen Stellen investieren.
Klar: Wer sagt, dass drei Monate billiger Nahverkehr keine Verkehrswende sind, hat recht. Aber es ist der erste seriöse Versuch, einen Startschuss für eine Verkehrswende zu setzen. Es ist eine riesige Chance für die Verkehrsunternehmen: Zu zeigen, an welcher Stelle sie für eine neue Mobilität schon gut aufgestellt sind. Und herauszufinden, wo sie dafür noch aufholen müssen. Diese Chance, diesen verrückten ÖPNV-Sommer, sollten sie begrüßen.
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