Voi-Chef: "Wir haben kein Imageproblem"
Stephan Boelte, Deutschland-Chef des E-Scooter-Primus Voi, sieht seine Branche zu Unrecht in der Kritik. Er nimmt seine Nutzer*innen in die Pflicht und erklärt, wie er dafür sorgen will, dass künftig weniger Roller die Gehwege blockieren.
Mit rund zwei Millionen Buchungen pro Woche zählt der schwedische Konzern Voi zu den größten E-Scooter-Anbietern in Europa. Auch aus dem Straßenbild deutscher Städte sind die rot lackierten Roller nicht mehr wegzudenken. Im Juni 2019, bei der Zulassung der elektrischen Roller, die Geschwindigkeiten bis zu 20 km/h erreichen können, war die Euphorie groß. Der damalige Verkehrsminister Andreas Scheuer pries „das enorme Zukunftspotenzial“ der E-Scooter: „Sie sind eine echte zusätzliche Alternative zum Auto, ideal etwa für die letzte Meile von der U- und S-Bahn oder Bushaltestelle nach Hause oder zur Arbeit.“
Zweieinhalb Jahre später fällt die Bilanz gemischt aus. Die ersten Städte erwägen, das Angebot zu reduzieren oder gänzlich zu verbannen. Stephan Boelte, Deutschlands-Chef von Branchenprimus Voi, fordert einen Strategiewechsel von den Kommunen und appelliert an die Vernunft seiner Kund*innen.
mobility.talk: Wie sieht ein durchschnittlicher Nutzer von E-Scootern aus, Herr Boelte?
Stephan Boelte: Die Hälfte unserer Nutzer ist älter als 35 Jahre. Bei der demografischen Verteilung sprechen wir über eine männliche Mehrheit, wobei die in den vergangenen Jahren geringer geworden ist. Trotzdem glaube ich, dass die Themen Elektronik und Technik deutlich stärker eine männliche Zielgruppe ansprechen als eine weibliche.
mobility.talk: Können Sie sagen, wann und wofür diese Menschen Ihr Angebot nutzen?
Boelte: Die Stoßzeiten sind ganz klar morgens und abends gegen 17 Uhr. Zumindest unter der Woche. Am Wochenende sieht das etwas anders aus. Da registrieren wir deutlich mehr Fahrten in den Abendstunden. In der Regel handelt es sich um sogenannte Interimsstrecken von zwei bis vier Kilometern Länge. Die meistgefahrenen Strecken sind in den Städten natürlich jeweils unterschiedlich. Häufig ist es so, dass die Strecken am jeweiligen Hauptbahnhof starten und enden, weil dort die Anbindung an den ÖPNV am stärksten ist.
mobility.talk: Sehen Sie darin die Aufgabe von Voi, eine Ergänzung zum ÖPNV zu sein?
Boelte: Ja, auf jeden Fall. Wir bieten eine fahrradähnliche Dienstleistung. Mit dem Unterschied, dass man am Ende nicht verschwitzt und mit zerwühlten Haaren ankommt. Zusammen mit dem Free-Floating-Konzept lässt sich das ideal mit dem öffentlichen Nahverkehr kombinieren, wodurch wir in Deutschland zukünftig einige Emissionen sparen können. Das kann unabhängig vom ÖPNV passieren. Grundsätzlich sehen wir uns als Partner des ÖPNV, nicht als Konkurrent. Wie gut eine Kombination oder auch eine Integration der Angebote möglich ist, hängt eng mit der Infrastruktur in den Städten zusammen. Unser Ziel ist es, das Scooter-Business nachhaltig zu betreiben.
mobility.talk: Was braucht es dafür?
Boelte: Natürlich zuerst eine gewisse Nutzungsdichte. Ein Roller, der auf dem Gehweg steht und von niemandem benutzt wird, ist totes Kapital. Gleichzeitig braucht es eine relevante Anzahl an Scootern, um eine Verfügbarkeit zu gewährleisten. Dafür sind wir im ständigen Austausch mit Städten und Kommunen, um zu erfahren, wo deren Interessen liegen, in welchen Bezirken sie einen Bedarf an unserem Angebot sehen und so weiter.
mobility.talk: Wie würden Sie generell Ihr Verhältnis mit den Städten und Kommunen beschreiben?
Boelte: Es gibt Städte, die uns mit offenen Armen empfangen, mit denen wir Daten austauschen und gemeinsam an Lösungen arbeiten. Durch unsere Daten können wir beispielsweise aufzeigen, wann welche Strecken besonders stark frequentiert werden. Zudem bauen wir unsere Flottenteams mit E-Scooter-Rangern aus. Diese Mitarbeiter schauen vor Ort, ob die Scooter ordnungsgemäß geparkt sind und kümmern sich um Bergungs- und Rettungsaktionen. Wenn es zu Verstößen beim Abstellen kommt, werden die durch unsere Leute korrigiert. Übrigens auch, wenn es sich um Fahrzeuge anderer Anbieter handelt. Wir haben sogar schon Taucher losgeschickt, um Roller aus Flüssen herauszuholen, in die sie geworfen wurden.
mobility.talk: Trotzdem gibt es Städte wie Düsseldorf oder Oslo, die den Bestand an Scootern reduzieren wollen oder über Nachtfahr-Verbote nachdenken.
Boelte: Grundsätzlich: Wir sind große Fans von Regulierung. Diese Konzepte, die Sie ansprechen, sehen eine gewisse Anzahl an Scootern vor, die zur Verfügung gestellt werden. Diese Zahl wird durch die Dienstleister vor Ort geteilt. Wir bevorzugen ein sogenanntes Ausschreibungsmodell. Dabei werden wenige Hersteller ausgewählt, die sich dann die zugelassene Anzahl an Scootern teilen. Als Rechenbeispiel: Wenn in einer Stadt 5000 Scooter erlaubt sind, finden wir es nicht so gut, wenn fünf Anbieter jeweils 1000 Scooter aufstellen. Unser Vorschlag lautet, beispielsweise nur zwei Provider auszuwählen, die dann jeweils 2.500 Scooter entsenden dürfen.
mobility.talk: Das leuchtet ein, beinhaltet aber die Gefahr, einer der drei aussortierten Anbieter zu sein, die am Ende gar keine Scooter mehr aufstellen dürfen. Was macht Sie so sicher, dass Voi am Ende nicht zu denen gehört, die außen vor sind?
Boelte: Wir wissen, dass wir ein sehr, sehr guter Partner für die Städte und Kommunen sind. Mit unseren technischen Lösungen sind wir vorn mit dabei. Wir verlangen zum Beispiel von unseren Kunden, dass sie nach Beendigung der Miete ein Foto aufnehmen und hochladen. So wollen wir sicherstellen, dass das Fahrzeug ordnungsgemäß abgestellt wurde. Und können, falls es im Nachgang Probleme gibt, gewisse Dinge besser nachvollziehen. Das ist eine sehr wichtige Frage für viele Städte: Wie kann gewährleistet werden, dass die Scooter sauber am Rand des Gehwegs abgestellt wurden und nicht quer im Weg stehen? Wir entwickeln zum Beispiel gerade ein Tool für Mitbürger, die uns falsch abgestellte Scooter melden können.
mobility.talk: Diese Sorge ist entstanden, weil viele Scooter eben nicht ordnungsgemäß abgestellt wurden. Haben E-Scooter drei Jahre nach ihrer Einführung ein Imageproblem?
Boelte: Wenn man die Schlagzeilen in den Zeitungen liest, kann dieser Eindruck entstehen. Allerdings empfinde ich diese Berichterstattung streckenweise etwas einseitig und manchmal realitätsverzerrend. Wenn man sich die Anbieter anschaut, ist die Realität eine andere. ich kann nur für uns sprechen, aber ich sage voller Überzeugung: Voi hat kein Imageproblem. Das Feedback seitens der Städte ist sehr positiv, weil wir immer schnell versuchen, alle Probleme zu lösen. Ich denke, da sind wir innerhalb der Branche ein Vorreiter. Wir verstehen uns als Partner der Städte und wollen einen wichtigen Beitrag zum Klimawandel leisten.
mobility.talk: In einem Geschäft wie dem E-Scooter-Business bleiben als unberechenbare Faktoren stets die Kund*innen. Inwiefern tragen Ihre Nutzer Verantwortung dafür, dass die öffentliche Wahrnehmung ist wie sie aktuell ist?
Boelte: Ich glaube, da müssen wir differenzieren. Stichwort Parksituation: Wer stellt die Scooter denn de facto quer auf den Gehweg? Die Kund*innen oder andere Passant*innen, nachdem die Miete beendet ist?
mobility.talk: So etwas kommt vor?
Boelte: Natürlich. Wir und auch unsere Mitbewerber sind nicht selten Opfer solcher Aktionen Dritter. Das ist natürlich nicht imagefördernd. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir reden hier über ein gesellschaftliches Problem. Das sollte man auch gesamtgesellschaftlich adressieren.
mobility.talk: Was meinen Sie damit?
Boelte: Genau wie bei Auto- und Radfahrern muss auch bei E-Scooter-Fahrer*innen ein Lernprozess angestoßen werden. E-Scooter sind genauso Verkehrsteilnehmende wie Autos und Fahrräder, das müssen alle Kund*innen verstehen. Wir geben ihnen alle Features an die Hand, die sie benötigen, um sich sicher mit einem E-Scooter zu bewegen. Sie können die Geschwindigkeit von 20 km/h auf 15 km/h drosseln. Wir haben sogar eine Fahrschule implementiert, damit sich Neukund*innen in Ruhe an das Fahren mit dem E-Scooter gewöhnen können. Was die Nutzer*innen dann konkret mit dem E-Scooter anstellen, liegt – auch wenn wir alles daran setzen, positiven Einfluss zu nehmen – nicht in unserer Hand.
mobility.talk: Eine Studie der TU München hat nun ergeben, dass ein Fünftel der Unfälle unter Alkoholeinfluss passieren.
Boelte: Das ist ein Problem für uns. Es scheint, als wären sich einige Nutzer*innen des speziellen Fahrzeugstatus der E-Scooter nicht bewusst. Hier gilt dieselbe Promillegrenze wie bei PKW. Wir testen gerade in verschiedenen Städten eine Funktion. Ab einer bestimmten Uhrzeit greift ein Kontrollmechanismus, der feststellt, ob jemand in der Lage ist, einen Scooter zu bewegen. Es geht dabei um Dinge wie die Reaktionszeit. Natürlich gibt es da Grenzen, zum Beispiel könnten Freund*innen diesen Test absolvieren und den E-Scooter dann weiterreichen. Aber innerhalb dieser Grenzen, versuchen wir alles herauszuholen. Ich habe eingangs schon gesagt: Wir sind ein großer Freund von Regulierung. Die Menschen, die nicht alkoholisiert ins Auto oder auf das Rad steigen, müssen verstehen, dass sie dann gefälligst auch den E-Scooter stehenlassen. Das schließt, wenn nötig, auch verstärkte Polizeikontrollen mit ein. Genau wie bei Auto- und Radfahrern. Allerdings ist das eine Entscheidung der Kommunen.
mobility.talk: Statistiken zeigen, dass bei Fahrer*innen von E-Scootern eine besonders große Unwissenheit über die geltenden Verkehrsregeln herrscht.
Boelte: Wie gesagt, es ist ein Lernprozess. Um diesen anzukurbeln, veranstalten wir lokale Verkehrssicherheitstrainings, senden In-App-Benachrichtigungen und haben ein umfassendes Onboarding. An unserer digitalen Verkehrssicherheitsschule haben in Deutschland bereits mehr als 200.000 Nutzer*innen teilgenommen. Ich habe aber manchmal das Gefühl, dass sich auch viele Radfahrer so benehmen, als würden für sie keine Regeln gelten.
mobility.talk: In einigen Städten wird daher darüber diskutiert, E-Scooter ab einer bestimmten Uhrzeit zu untersagen.
Boelte: Wir halten Nachtfahrverbote für nicht zielführend. Der Großteil der nachts fahrenden Nutzer*innen ist nicht unter Alkoholeinfluss unterwegs. Das sind Menschen, die von der Nachtschicht kommen, den letzten Bus verpasst haben oder sich allein auf der Straße in der Dunkelheit nicht sicher fühlen. Dann müssten nachts auch Fahrräder und Motorräder verboten werden. Es liegt in der Verantwortung der jeweiligen Nutzer*innen, sich auch nach Einbruch der Dunkelheit sicher zu bewegen und von solchen Dingen wie Twin-Riding und Fahren unter Alkoholeinfluss abzusehen.
mobility.talk: Hinkt der Vergleich zu Fahrrädern nicht? Fahrräder sind in der Regel nicht motorisiert, die meisten Menschen lernen das Radfahren von Kindestagen an.
Boelte: Das sehe ich anders. Die Zahl der E-Bikes wächst, wie Sie sicherlich wissen, rasant. Und die dürfen mit 25 km/h noch fünf km/h schneller fahren als unsere Scooter. Ohne Nummernschild. Außerdem incentivieren wir bei unseren E-Scootern das Tragen eines Helms durch die „Helmet-Selfie“-Funktion. So lassen sich Treuepunkte und Vergünstigungen sammeln.
mobility.talk: Nicht jeder Radfahrende sitzt auf einem oft sehr teuren E-Bike.
Boelte: Letztlich kommt es auch hier darauf an, wie verantwortungsvoll fahre ich. Das gilt für normale Räder wie für E-Bikes und für E-Scooter.
mobility.talk: Ein weiterer Vorwurf, der den Anbietern von E-Scootern oft gemacht wird, betrifft den Preis. Oft sind Tickets für Bus und U-Bahn günstiger als die Mietgebühr, um mit einem Scooter die gleiche Strecke zurückzulegen.
Boelte: Das mag im Einzelfall stimmen. Dafür bieten wir natürlich viel mehr Flexibilität. Unsere Kund*innen sind nicht auf einen Fahrplan mit einem Bus, der vielleicht nur alle 15 Minuten fährt, angewiesen. Sie können sich mit dem Scooter ganz individuell durch die Stadt bewegen und haben on top noch den Fahrspaß. Deswegen sind die Vergleiche mit dem ÖPNV nicht so relevant. Wir wollen den Menschen die Mobilität auf den letzten ein, zwei Kilometern so angenehm wie möglich zu machen. Perspektivisch geht es eher darum, Autos im Innenstadtbereich überflüssiger zu machen. Da sind wir im Übrigen ganz einer Meinung mit Städten und Kommunen. Für Vielfahrer*innen haben wir eine breite Palette an Angeboten mit Monats- und Tagespässen. Pendler*innen, die die Scooter täglich nutzen, können im Rahmen eines Vielfahrerprogramms bis zu 40 Prozent Rabatt auf alle Fahrten bekommen.
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