Die Radfahr-Episode schafft Klarheit

Das Radfahren kommt in Deutschland nicht ausreichend voran. Denn abseits des offiziellen Sonntagsaktionismus fehlt noch immer eine adäquate Strategie.

Johannes P. Reimann

Die Friedrichstraße
Berlin-Friedrichstraße: "Fahrrad-Autobahn" ohne konzeptionelle Basis oder sinnvolle Förderung des radverkehrs? [Bildquelle: Sebastian Gabsch/Geisler-Fotopre/Picture-Alliance]

Der Diplom-Geograph und Mobilitätsexperte Johannes P. Reimann plant für den Fuß-, Rad- und Öffentlichen Verkehr, entwickelt Kommunikationskampagnen für den Umweltverbund und für Elektromobilität und forscht auch selbst zur Frage, welche Faktoren den Menschen in seiner Fortbewegung tatsächlich beeinflussen.

Welche geheime Magie das Nebeneinander der Worthülsen ‚Infrastruktur‘, ‚Service‘, ‚Information‘ und ‚Kommunikation‘ auch immer in den Rang eines Systems erheben soll: Sie wirkt. Nur leider nicht wie beabsichtigt. Die ‚Radverkehrsförderung mit System‘, derer die Verkehrspolitik sich seit Jahrzehnten rühmt, hat den Anteil der Menschen in Deutschland, die mindestens einmal wöchentlich Fahrrad fahren, seit dem Jahr 2002 von 40 auf 35 Prozent gesenkt.1 In den Musterländern der Radverkehrsförderung, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, sank dieser Anteil im gleichen Zeitraum sogar von 39 auf 33 beziehungsweise 32 Prozent. Nordrhein-Westfalen vergraulte einige Radfahrende sogar dauerhaft: Aus vormals 37 Prozent niemals radelnden Menschen wurden dort 40 Prozent. Der viel beschworene deutsche Fahrrad-Boom, jährlich mit Beginn der Radfahr-Saison beschworen, findet sich in den Statistiken nicht wieder.

Selbstsabotage mit System

Vermutlich trägt das aktuelle Leitbild selbst seinen Teil zum Niedergang des Radverkehrs bei. Denn seine Beliebigkeit begünstigt eine systematische Urteilsverzerrung: Schon das Handeln in Bezug auf ein Problem stellt Selbstzufriedenheit beim Handelnden her. Und führt zu einer Überschätzung des Lösungsbeitrags der Handlung. Doch Fahrradmobilität funktioniert nun einmal nicht wie eine Wohltätigkeitsveranstaltung: Nur, weil eine Gemeinde ein Radverkehrskonzept verabschiedet, fahren nicht automatisch mehr Menschen Fahrrad. Auch dann nicht, wenn dem Konzept reale Maßnahmen folgen.

Damit dies gelingt, müssen sich die Maßnahmen zusätzlich als wirkungsvoll erweisen. Bedauerlicherweise gilt das aber nicht als Kriterium für ihre Auswahl. Politischer Geschmack dagegen schon. Der erleidet, ausgerechnet in unseren letzten Gnadenminuten vor der großen Klimadämmerung, einen schweren Rückfall in die 1960er und -70er Jahre. Welche andere Erklärung gäbe es für den tragischen Irrglauben, die zerstörerischen Rezepte einer autogerechten, aber menschenfeindlichen Welt machten das Radfahren im 21. Jahrhundert unwiderstehlich attraktiv? Das unnütze Geschwätz von der ‚Radverkehrsförderung mit System‘ schiebt der Neuplanung und dem Ausbau von getrennten Fahrspuren, Parkhäusern oder Autobahnen für den Radverkehr, also Protected Bike Lanes und Radschnellwegen, nicht nur keinen Riegel vor. Es legitimiert sie sogar.

Die Radfahr-Wirklichkeit besteht aus Insellösungen

Vielleicht hilft ein Blick auf die Realität: Eines schönen Sommers stand für die Fünftklässler einer kleinstädtischen Schule eine Unterrichtseinheit zum Radfahren an. Jedoch radelten nur wenige Schülerinnen und Schüler selbst zur Schule. Stattdessen bildete sich morgens vor dem Schultor eine obszön lange Schlange panzerartiger SUV, aus denen jeweils genau ein Elternteil sein Kind mitsamt Fahrrad entlud. Die Ironie: Die Kinder zeigten sich während der Unterrichtseinheit stark enttäuscht darüber, dass eine gemeinsame Radtour nicht vorgesehen war.

Diesen Vorgang sollten wir nicht den kleinstädtischen Verhältnissen zuschieben. Auch in Hamburg und anderen Großstädten raten Schulen und Eltern den Kindern immer häufiger an, den Schulweg per Fahrrad zu vermeiden. 2 Wo helfen hier mehr Parkhäuser oder Radschnellwege dem Radverkehr? In welchem dieser Fälle nutzt es dem Radverkehr, die Persönlichkeiten der Kinder oder ihren sogenannten Mobilitätsstil in Typen einzuordnen, wie die oft ratlose Mobilitätsforschung das aus purer Verlegenheit heraus gerne tut3?

Die Ursache für die Rückentwicklung des Radverkehrs liegt im Denkansatz. Wer simpel annimmt, Menschen müssten zum Radfahren ‚gebracht‘ werden, versetzt sich selbst ohne Not in die Lage des blinden Mannes unter blinden Männern, in einem Raum mit einem Elefanten4: Die Analyse des ersten Mannes wird lauten, alles stehe und falle mit der Infrastruktur. Die des zweiten wird die Serviceangebote verantwortlich machen; der dritte Mann wird umfangreiche Kommunikation fordern. Keiner der Männer wird seine Behauptungen belegen müssen oder gar mit einem Vorschlag aufwarten, wie sich die drei Analysen miteinander vereinbaren lassen. So geht Politik.

Bunter Radweg
[Bildquelle: Pressefoto Gora/Picutre-Alliance]

Was hindert den Menschen am Radfahren?

Fortschritt dagegen begänne mit der befreienden Erkenntnis, dass wir längst den ganzen Elefanten und sogar sein Verhalten kennen. Und es noch vor einer Analyse vollständig und zusammenhängend beschreiben sollten. Heraus kommt im Radverkehr dabei die Radfahr-Episode5. Sie bietet ein geordnetes Ablaufschema entlang der Handlungen einer radfahrenden Person: Vom ersten Moment der Entscheidung, einen Weg zurückzulegen, bis zum abschließenden Urteil über das Getane und Erlebte.

So verliert die Lösungssuche für den Radverkehr sich nicht in Stückwerk: Weder in den Worthülsen des aktuellen Leitbilds noch in grotesken Schildbürgerstreichen wie dem Wettbewerb Stadtradeln6. Stattdessen verfügen die Planer mit dieser Technik endlich über einen zwingenden roten Faden, der die schmerzlich vermisste Kohärenz herstellt.

Wenn wir dann noch die erwähnte irrige Grundannahme korrigieren und stattdessen postulieren, dass jeder Mensch eigentlich ab Werk Fahrrad fährt, gewinnen wir einen Untersuchungsansatz, der systematische Aufklärung zulässt. Er dreht sich um die Frage: Was hindert den Menschen am Radfahren und was erschwert es ihm?

Indem wir diese Widerstände aufdecken, fördern wir nicht nur die wirklich relevanten Lösungsansätze zutage. Vor allem eröffnen wir einen viel größeren Erkenntnisraum: Die Gründe für eine erschwertes oder verhindertes Radfahren müssen nicht nur in den radfahrenden oder nicht radfahrenden Personen liegen. Sie können genauso gut in den konkurrierenden Verkehrsmitteln oder der Mobilitätsumgebung liegen.

Einzelne Widerstände ließen sich mit genügend Zeit und Forschung sogar zu einer Gleichung zusammensetzen, die nicht nur die Stärke jedes einzelnen Widerstands ausdrückt, sondern auch seinen globalen Einfluss auf das Radfahren insgesamt. Möglicherweise bekämen wir heraus, dass die Barrierewirkung im Seitenraum parkender Kfz eine viel größere Macht entfaltet als beispielsweise der viel beschworene Einfluss von Wetter oder Topografie. Oder dass die wirkungsvollste Lösung, das Radfahren deutlich attraktiver zu machen, darin bestünde, das Autofahren massiv zu erschweren.

Nachdenken mit System

Die Radverkehrsförderung künftig im echten System, also mit real wirkenden Zusammenhängen, zu denken, würde uns weniger anfällig machen gegenüber unseriösen Heilsversprechen. Sie erlaubte uns darüber hinaus, unsere Ressourcen wesentlich effizienter einzusetzen. Vor allem aber: reale und nicht nur herbeigeredete Erfolge zu erzielen. Dann bräuchten wir keine Zauberlehrlinge und keine Leitbild-Makulaturen mehr.

Der Anteil des Radverkehrs an allen Wegen blieb über die Jahre übrigens in etwa gleich. Wenn die Zahl regelmäßig Radfahrender sinkt, bedeutet das: Dasselbe Wegeaufkommen wird von weniger Menschen geleistet. Ich nenne sie ‚Trotzdemradler‘. Nicht nur sie, sondern auch alle Menschen, die gerne Rad fahren würden, sich darin aber gehindert sehen, verdienen eine reale, zusammenhängende und konsistente Verbesserung der oft nebulös als ‚Radfahrbedingungen‘ bezeichneten Verkehrsverhältnisse zu ihren Gunsten.

Statt, wie der Radverkehrsplan 3.0 es tut, die längere Distanz zum Staatsziel zu erheben7 und damit geringe Distanzen und weniger leistungsfähige Menschen von vornherein auszuschließen, gilt es, alle Radfahr-Erlebnisse, gleich welcher Länge, optimal auszugestalten. Die Radfahr-Episode bietet dafür ein gutes Instrument.

Quellen:

  1. Mobilität in Deutschland 2002: Tabellenband, Tabelle 3.1 A sowie Mobilität in Deutschland 2017: Tabellenband, Tabelle A P 19.8
  2. https://www.zeit.de/mobilitaet/2020-01/verkehrssicherheit-kinder-fahrrad-gefahr-schulweg/
  3. z.B. https://bicycle-observatory.zgis.at/
  4. https://americanliterature.com/author/james-baldwin/short-story/the-blind-men-and-the-elephant
  5. https://spitzenkraft.berlin/realitaet-klappe-die-erste/
  6. https://spitzenkraft.berlin/gewalt-ritt-auf-sinnlos-rekorden/
  7. https://spitzenkraft.berlin/unverhohlene-trickserei/

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